Die Farben des Chaos
und blieb still sitzen. Obwohl es kein sehr warmer Tag war, schwitzte er nach der stummen Anstrengung. Der Bereich, den er getroffen hatte, war halb verdeckt, und falls wirklich jemand genau hinschaute, würde er glauben, der Steinmetz hätte einen Fehler gemacht und ein Loch mit Sand aufgefüllt, der mit der Zeit wieder herausgewaschen worden war.
Kinowin hatte ihm vorgeschlagen, seine freie Zeit zu nutzen, um seine Fähigkeiten zu vervollkommnen – aber wie sollte er das anfangen? Und wo sollte er üben? Er hatte außerdem schlecht erklären können, dass er den Umgang mit dem Lichtschild, der ihn völlig unsichtbar machte, bereits recht gut beherrschte. Im Turm, wo die Wände Augen und Ohren hatten, konnte er jedenfalls nicht darüber sprechen. Er legte auch keinen Wert darauf, den Leuten zu erklären, dass er wusste, wie man eine Lichtlanze erzeugte. Und wenn er sie hier beim Wachdienst offen eingesetzt hätte, dann hätten es binnen weniger Tage alle Magier in den Hallen einschließlich Jeslek erfahren.
Cerryl hatte sich überlegt, welche anderen Fähigkeiten nützlich sein konnten … Fähigkeiten, an denen er möglichst still und insgeheim arbeiten konnte. Irgendwie hielt er es für eine gute Idee, das Chaos eng zu bündeln. Irgendwann einmal wollte er die Lichtlanze gegen kaltes Eisen einsetzen, aber er wagte es nicht, hier zu experimentieren, wo man ihn entweder mit bloßem Auge oder mit einem Spähglas beobachten konnte. Wenn er Chaos gegen Eisen einsetzte, würde er jeden Magier in der Umgebung aufschrecken.
Das Rumpeln von Wagenrädern auf dem Pflaster der Hauptstraße unterbrach sein Grübeln. Er richtete sich auf. Es war die Nachmittagskutsche aus Lydiar. Vier Fahrgäste stiegen aus und blieben am Wachhaus stehen, während Cerryl mit seinen Sinnen die Kisten und Taschen untersuchte, die oben auf dem Dach festgebunden waren. Abgesehen von einem schwarzen Koffer mit einigen Eisenmessern waren im Gepäck nur Gegenstände aus Stoff oder Leder, die sich ›weich‹ anfühlten.
»Ser?«, rief der wachhabende Offizier.
»Im schwarzen Koffer sind Messer, aber es gibt kein Gesetz, das den Besitz von Nahkampfwaffen verbietet.«
Der dunkelhäutige Händler, purpurn gekleidet und mit einem schwarzen Bart, schaute zum schmalen Magier hinauf, der auf der Plattform des Wachhauses stand, dann sah er den wachhabenden Offizier an und schüttelte den Kopf.
»… verstehen, warum es besser ist, hier nichts durchzuschmuggeln«, erklärte ein rundlicher Händler aus Sligo, der eine reich bestickte Weste trug.
»… von den Dämonen verdammten Magier wissen sogar, was du zum Frühstück gegessen hast …«
»Dadurch verlaufen unsere Geschäfte aber besser«, meinte ein dritter Mann, ein Blonder in grauem Hemd und ebensolcher Hose, der dazu hohe schwarze Stiefel trug. Cerryl wusste die Kleidung nicht einzuordnen.
»Ja, die Schmuggler wagen sich nicht auf die Hauptstraßen der Weißen.«
»Und wenn sie sich auf die Straßen wagen, dann nur ohne Schmuggelgut.«
»Also weiter!«, rief der Kutscher.
Als die Kutsche durchs Stadttor fuhr, wandte sich der wachhabende Offizier mit breitem Lächeln an Cerryl. »Das dürfte sie ordentlich beeindruckt haben, Ser.«
»Wir wollen es hoffen.« Cerryl dachte über den blonden, grau und schwarz gekleideten Mann nach. Sein Alter war kaum zu bestimmen gewesen und er hatte keinerlei Anzeichen von Ordnung oder Chaos in sich gehabt. Aber irgendetwas an ihm beunruhigte Cerryl. Oder lag es nur daran, dass er nicht einschätzen konnte, woher der Bursche gekommen war?
Cerryl setzte sich wieder auf den Stuhl und befühlte sein glatt rasiertes Kinn.
Es gab so viele Dinge, die noch nicht geklärt waren. Leyladin war nach Hydlen unterwegs, und während er sich über seine Fortschritte im Umgang mit dem Lichtdolch freute, hatte er doch den Eindruck, dass er sich noch etwas Besseres einfallen lassen sollte.
Er musste sich genau überlegen, welche anderen Chaos-Fähigkeiten er schulen oder neu entwickeln konnte, aber er musste es verstohlen tun, damit Anya und vor allem Jeslek nicht zu früh davon erfuhren.
VI
C erryl wusste selbst nicht, warum, aber er holte tief Luft, als er Kinowins Gemächer verließ. Jedenfalls war er erleichtert, dass Kinowin ihn nicht weiter gedrängt hatte, seine Chaos-Fähigkeiten zu entwickeln.
»So schlimm kann es doch nicht gewesen sein.« Faltar, der vor der Tür des Obermagiers gestanden hatte, grinste Cerryl an. »Warte auf mich, es wird nicht lange
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