Die Farben des Chaos
suchen.«
Cerryl zuckte unwillkürlich zusammen.
»Wirklich beeindruckend«, fuhr Kinowin mit seiner normalen Stimme fort. »Sogar ich bin anfangs darauf hereingefallen.«
Cerryl konnte sich nicht vorstellen, dass Kinowin überhaupt auf irgendetwas hereinfiel.
»Es ist ja in der Tat ziemlich verwirrend. Wie kann man wissen, ob eine Vision wahr ist? Wenn sie nicht stimmt und Ihr arbeitet gegen sie, sorgt Ihr dann dafür, dass sie dennoch wahr wird? Oder … wenn sie wahr ist und Ihr widersetzt Euch ihr, tut Ihr dann nicht das Gleiche? Denn … wenn man etwas verändern kann, wie können dann Visionen existieren?«
Der junge Magier schauderte. »Hatte Ryba etwa ebenfalls …?«
»O ja. Wenigstens, wenn man dem Buch Ayrlyn Glauben schenken kann. Manche nennen es auch Rybas Fluch.«
»Ich dachte, es sei ein verbotenes Buch.«
»Das ist es auch … aber das gilt nicht für Mitglieder der Gilde. In ein oder zwei Jahreszeiten werde ich es Euch lesen lassen. Ihr seid noch nicht ganz so weit.«
»Meint Ihr, es sei voller Lügen, aber ich hätte noch nicht genug Wissen, um die Lügen als solche zu erkennen?«
»Nein. Es ist voller Wahrheiten, und Ihr werdet Mühe haben zu erkennen, wieso Wahrheiten manchmal Lügen sein können.« Kinowin schnaubte leise. »Das war schon immer unser Problem in der Gilde.« Er riss sich vom Wandbehang los und ging zum einsamen Bücherregal hinüber. Dabei schritt er durch den goldenen Lichtbalken, in dem weißgoldene Flocken von Chaos-Staub flimmerten. »Tatsachen sind Tatsachen, auf feste Steine kann man bauen.« Der Obermagier hatte das Bücherregal erreicht und zog einen Band heraus, schob ihn aber sogleich wieder zurück. »Seht Ihr dieses Buch? Das ist es.« Er lachte. »Sterol und Jeslek würden sich vor Lachen biegen, wenn sie hörten, wie der grobe, einfach gestrickte Kinowin über die Wahrheit redet. Ich muss ja sogar selbst lachen. Was ist die Wahrheit? Oh, die Philosophen haben natürlich viele Antworten und schöne Worte für Euch. Aber was niemand zugeben will – besonders Myral nicht –, ist die Tatsache, dass es etwas wie die reine Wahrheit nicht gibt. In diesem Punkt hat Anya Recht. Wir glauben an Dinge, die wir für richtig halten, und nennen sie die Wahrheit. Die Schwarzen halten es nicht anders.«
Cerryl riss die Augen auf.
»Ich sage nicht, dass ich den Schwarzen glaube und vertraue. Sie haben indirekt mehr Blutvergießen verursacht als Fairhaven mit all seinen Lanzenkämpfern. Sie reden von Frieden und Ordnung, aber Recluce wurde mit der Klinge des größten Schwertkämpfers und Wetter-Magiers aller Zeiten gegründet, und bis auf den heutigen Tag hat kein Zweiter so viele Menschen im Namen von Frieden und Ordnung umgebracht.«
Cerryl wartete, was noch kommen würde.
»Männer und Frauen sind nicht vollkommen, das habt Ihr selbst schon gesehen. Anya hat Euch sicherlich erzählt, dass die meisten Menschen sich vom Leben Reichtum oder Macht oder einen schönen Körper im Bett versprechen.« Kinowin schüttelte den Kopf. »Auch damit hat sie Recht. Das ist genau das, was die meisten Menschen wollen. In einem Punkt stimme ich allerdings mit Anya nicht überein, denn ich bin der Ansicht, dass die Mitglieder der Gilde nicht wie ›die meisten Menschen‹ sein sollten, und dieser Unterschied ist die Grundlage, auf der die Gilde ruht.« Der Obermagier räusperte sich. »Wusstet Ihr, dass es im alten Cyador, im ersten Weißen Land westlich der Westhörner, Hauptstraßen gab, die noch prächtiger waren als unsere? Es gab dort Feuerwagen, die unermüdlich auf den Straßen fuhren, und Feuerschiffe, mit denen sie die Meere beherrschten. Selbst die ärmsten Bauern hatten Häuser mit Öfen und Wasserpumpen im Hof. Und die Schwarzen entfesselten das Chaos und zerstörten Cyador. Sie nennen sich Hüter der Ordnung, aber sie haben das Chaos benutzt, um das größte Land zu zerstören, das es je in Candar gegeben hat.«
»In Die Farben der Weiße steht etwas darüber«, gab Cerryl ruhig zurück.
Kinowin ging wieder zum Fenster und schaute zur Stadt hinaus, die im Nachmittagslicht lag. »Die Vorstellung, irgendetwas sei die ›Wahrheit‹, ist eine der gefährlichsten Ideen, auf die ein Herrscher überhaupt kommen kann. Das einzige Problem ist, dass die Behauptung, es gebe so etwas wie die Wahrheit überhaupt nicht, noch viel schlimmer ist. Dann hätten die Menschen keinen Halt und nichts mehr, woran sie glauben können.« Kinowin drehte sich zu Cerryl um. »Ihr hört meine
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