Die Farben des Chaos
sich selbst und leerte damit die erste Flasche, doch er füllte sein Glas eher, um die Tatsache zu verbergen, dass er kaum etwas getrunken hatte, und nicht so sehr, weil er den Wein wirklich mochte. »Was würdet Ihr vorschlagen?«
»Oh … nein, ich schlage Euch nichts vor. Nicht jetzt, mein lieber Cerryl. Ich bin eine grausame Frau. Ihr sollt über meine Worte nachdenken. Ihr und Faltar und Lyasa und Myredin und Heralt und Bealtur, Ihr alle müsst Euch selbst entscheiden. Und niemand wird Euch je genug Antworten geben können.« Anya lächelte ebenso strahlend wie unaufrichtig.
Cerryl wappnete sich innerlich.
»Ich kann Euch allerdings verraten, dass nichts so ist, wie es scheint. Nicht die Gilde, nicht Kinowin, nicht Myral, nicht Sterol und nicht einmal ich. So viel kann ich Euch sagen. Sie hätten es Euch nicht gesagt.« Sie trank noch einen Schluck vom dunkelroten Wein. »Ganz egal, was jemand Euch sagt, fragt Euch selbst, ob es für Euch richtig ist.« Und wieder trank sie einen Schluck. »Wein lügt nicht, Cerryl. Wir belügen uns selbst, wir belügen andere. Der Wein belügt niemanden.« Das strahlende Lächeln war ein wenig schief, als Anya ihn eine Weile anstarrte, um schließlich das Glas zu heben und zu leeren.
Cerryl schenkte ihr beinahe abwesend nach. Auch die zweite Flasche war schon zur Hälfte geleert.
»Ihr könntet gefährlich werden, Cerryl, aber Ihr seid zu sanft. Selbst mit denen, denen Ihr nicht traut, seid Ihr nachsichtig. Auch das ist ein Punkt, in dem Ihr Euch in Acht nehmen müsst.« Anyas graue Augen umwölkten sich, bis die Magierin ein wenig wie eine Eule aussah. Sie wiegte das Weinglas in beiden Händen.
Zu sanft? Cerryl schluckte, um ein Gähnen zu unterdrücken.
»Ihr seid müde und verwirrt. Vielleicht nicht sehr verwirrt, sicher nicht so arg verwirrt wie viele andere, aber doch ein wenig.«
Verwirrt? Ja, aber nicht so, wie du es dir denkst … meine liebe Anya.
»Dann lauft doch weg, Cerryl. Lauft weg und flieht in Eure Höhle.« Anya machte eine ausholende Geste. »Lauft weg und werdet ein vorsichtiger Höhlenbewohner und denkt nach.« Sie lachte heiser. »Aber es wird Euch nichts nützen. Es wird Euch überhaupt nichts nützen.«
Cerryl stand auf und verneigte sich leicht. »Ich bin müde. Darf ich Euch bis zu den Hallen begleiten?«
»Ja, das dürft Ihr. Das würde mir gefallen.« Trotz des Weins, den sie heruntergekippt hatte, stand Anya noch recht anmutig auf.
Cerryl folgte ihr die Treppe hinunter und hielt sich bereit, sie festzuhalten, falls sie stürzte, aber die rothaarige Magierin schwankte nur leicht und torkelte mit einer Anmut, die beinahe verführerisch wirkte.
Beinahe.
»Gute Nacht, Westcort.« Anya verabschiedete sich mit einem Nicken vom Wirt.
»Gute Nacht, verehrte Anya … Ser.«
»Gute Nacht«, sagte auch Cerryl. Da Westcort kein Geld verlangt hatte, galt Anya hier entweder als kreditwürdig … oder sie hatte im Voraus bezahlt.
»Du wunderst dich, nicht wahr?«, fragte die rothaarige Frau, als Cerryl ihr die Treppe zur vorderen Halle hinaufhalf. »Du wunderst dich … nun ja … ich werde dich im Ungewissen lassen.«
Langsam gingen sie durch die verlassene vordere Halle. Ihre Stiefel hallten laut im Zwielicht, gegen das die vereinzelten, niedrig brennenden Wandlampen nicht viel auszurichten vermochten. Ein willkommener Hauch kühler feuchter Luft wehte ihnen vom Springbrunnen entgegen, als sie die zweite Halle betraten.
»Hier entlang.« Anya ging durch einen Seitengang an den Gemeinschaftsräumen vorbei. Cerryl war nur selten hier gewesen, weil man über diesen Gang nur zu einem weiteren Innenhof kam, den man über andere Wege jedoch besser erreichen könnte. »Unsere Zimmer liegen in einem anderen Flügel, wir sind hier unter uns. So sind auch die Bäder und Toiletten näher.«
Plötzlich blieb Anya vor einer Tür stehen. Auf einem bronzenen Schild stand ihr Name.
»Gute Nacht, Cerryl.«
Anya huschte hinein und verriegelte hinter sich die Tür.
Cerryl stand einen Augenblick vor der Tür. Hatte er einen kleinen Schrei gehört – oder ein Lachen? Er war nicht sicher. Endlich drehte er sich um.
Was hatte Anya gewollt? Ihn verwirren? Mehr über ihn herausfinden, damit sie oder Sterol oder Jeslek ihn in die Hand bekamen? Ins Bett hatte sie ihn nicht bugsieren wollen, das war klar. Aber dies war auch schon der einzige Punkt, in dem er sich wirklich sicher war.
In Gedanken ging er langsam durch den hinteren Hof zu seiner Halle, dann die
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