Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition)
auf, die auf der Werkbank neben ihm stand. Er wiegte sie beinahe in seinen großen Händen und blickte hinein. Ich glaube nicht, dass ihm meine Anwesenheit bewusst war. Ich musste lächeln, als ich ihn leise und abwesend mit den Knallkörpern sprechen hörte.
»Kleine Schätzchen«, flüsterte er, als hielte er eine Kiste mit Küken in den Händen.
* * *
Als der Bestatter gegangen ist, betrachte ich beschämt meine Röcke. Mir war wirklich nicht aufgefallen, wie verschlissen von Chemikalien, Leim und Schwarzpulver sie inzwischen sind.
»Was ziehst du an?«, frage ich Mary Spurren niedergeschlagen.
»Fast jedes Mädchen hat doch ein mottenzerfressenes Trauerkleid, in einer Familie sterben ja übers Jahr immer so viele. Meins ist mir natürlich enger als damals, als meine Mutter gestorben ist, aber wenn ich mein Tuch darüberschlage, merkt keiner, dass es am Rücken auseinanderklafft.« Sie sieht mich an. »Du wirst doch nicht etwa deine derben Röcke tragen, oder? Du weißt, dass alle, die am Grab kein Schwarz tragen, von den Toten gesehen werden können?«
»Das wusste ich nicht«, antworte ich. »Kann das so schlimm sein?«
»Bei der Beerdigung springt die Seele dann einen lebenden Körper an, wenn sie einen sieht. Ich würd’s nicht drauf ankommen lassen«, erwidert sie und schaudert.
»Aus Respekt vor dem Verstorbenen«, sage ich zweifelnd und mache mich auf in die Paternoster Row, um ein Kleid zu kaufen.
* * *
Zuerst will der Tuchhändler mich nicht bedienen. Er scheint zu glauben, dass ich für das, was ich brauche, nicht genügend Geld habe. Als ich ihm dann aber Mrs. Mellins glänzende Münzen zeige, reißt er in gespielter Überraschung die Augen auf. »Und welchen Diebstahl haben Sie begangen, um an eine solche Summe zu kommen?«, fragt er höhnisch und so laut, dass auch seine herumlungernden Lehrlinge jedes Wort verstehen können.
Ich gebe mich unbeeindruckt. Ich will ein Kleid haben. Ich zähle die Spulen mit Zierband in einer offenen Schublade links von mir. Zwei sind leuchtend blau, und drei haben verschiedene Rottöne, purpurrot, zinnoberrot. Mein Herz schlägt voller Angst, aber ich zeige sie ihm nicht. Ich kann nicht zu Mr. Blacklocks Beerdigung gehen, ohne dem Anlass entsprechend gekleidet zu sein. Es werden bedeutende Händler, Handwerker und Kaufleute zugegen sein. Wenn ich mir ausmale, ich würde in meinen groben halbwollenen Gewändern neben ihnen zum Friedhof gehen, schäme ich mich. Der Tuchhändler hinter seinem Ladentisch stellt eine Art Berechnung auf einem Blatt Papier auf.
»In der vorgegebenen Zeit können wir es nicht machen«, sagt er schließlich affektiert und schleppend, als er am Ende des Blattes angekommen ist, und sieht mich an.
Da kein weiterer Kunde zu sehen ist und seine beiden Schneider müßig im Hintergrund des Ladens stehen und plaudern, nehme ich eher an, dass er es nicht will. Kurz steigt sinnlose Wut in mir auf, als sich die Enden seines lächerlichen Schnurrbarts zu einem Grinsen heben. Er hat gewonnen.
Seine Schere liegt ordentlich auf dem Ladentisch. Sicher ist sie recht scharf, da mit ihr der Stoff für andere Kunden abgeschnitten wird.
Was kann ich tun, außer mit geradem Rücken über den Teppich zur Tür zu gehen? Ich mache mir nicht die Mühe, die Tür hinter mir zu schließen. Mrs. Mellins Münzen habe ich in mein Mieder zurückgestopft. Ich verfluche die Gemeinheit von Tuchhändlern.
* * *
Zurück im Haus bin ich nicht mehr im Zweifel darüber, was ich tun soll. Ich gehe in Mr. Blacklocks Kammer. Sie ist warm und leer, nur eine Fliege sirrt am Fenster. Seine Leiche ist heute Nachmittag vom Bestatter abgeholt worden. Ich war nicht dabei, denn ich wollte nicht sehen, wie Mr. Blacklocks Körper wie ein Sack Mehl die Treppen hinunterbefördert wurde. So wollte ich ihn nicht in Erinnerung behalten.
Vorsichtig hebe ich den Deckel der Truhe an.
Der dumpfe Geruch von altem Lavendel und Gänsefingerkraut und seit langer Zeit lagernden Stoffen dringt heraus. Der Reihe nach nehme ich die gefalteten Kleider heraus und lege sie um mich herum auf die Holzdielen. Mir wird bewusst, dass ich sie so behutsam berühre, als hätten sie jemandem gehört, den ich gekannt und geliebt habe. Verdorrte Kräuter fallen aus dem Papier heraus, in das sie eingewickelt sind.
Die Kleider entsprechen der Figur von Mrs. Blacklock. Als ich fast alle herausgenommen habe, sieht es in dem Raum aus, als würde ich nach langer Abwesenheit von zu Hause eine Reisetruhe
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