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Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition)

Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Borodale
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Agnes!«, aber natürlich geschieht das nicht. Ich kann es kaum glauben. Ich beiße die Zähne zusammen, damit sie nicht vor Aufregung klappern, während ich darauf warte, dass mein Bündel losgebunden und hinunter auf das Pflaster geworfen wird.
    Lettice zieht mich sanft auf die Seite und spricht mir mit plötzlicher Eindringlichkeit leise ins Ohr.
    »Du kannst keiner Seele trauen, Agnes«, sagt sie. Ihre blauen Augen in ihrem schmalen Gesicht blicken ernst. Ein Mann rollt mit Getöse leere Fässer aus einer Luke zu einem angemalten Fuhrwerk. Ein intensiver Geruch nach abgestandenem Bier steigt vom Pflaster auf.
    »Sei immer auf der Hut, Agnes. Geh immer davon aus, dass man niemandem trauen kann. Rechne immer damit, dass die Leute dich betrügen wollen«, flüstert sie und betrachtet mein Gesicht. »Leute, die dich ausnutzen wollen.«
    »Betrügen«, wiederhole ich. Ich bin auf einmal so müde.
    »Du hast keinen Ort, an den du gehen kannst, stimmt’s?«, fragt Lettice. Sie steht immer noch dicht neben mir. Ganz feine weiche Härchen auf ihrer Wange fangen das Licht hinter ihr ein. Und jetzt erkenne ich, wie jung sie sein muss, vielleicht fast so jung wie ich, obwohl sie mit so großer Sicherheit auftritt.
    Ich schüttle den Kopf. »Nein, hab ich nicht.«
    Lettice Talbot zieht einen zerknüllten Zettel aus ihrem Kleid und gibt ihn mir. Sie spricht jetzt schnell.
    »Hier ist meine Adresse. Ich wohne gegenüber der St. Giles Cathedral. Folge dieser Wegbeschreibung und halte hinter dem Schild des Schuhmachers nach der Nummer zwölf Ausschau. Die Hauswirtin heißt Mrs. Bray, sie ist eine anständige Frau. Sag ihr, dass du eine Bekannte von mir bist, nein, du bist meine ganz besondere Freundin, dann bekommst du ein Zimmer. Tu das bitte, unbedingt. Den Weg musst du allein finden, denn ich habe noch etwas Geschäftliches zu erledigen. Falls jemand danach fragt, sag auf jeden Fall, dass du die Pocken schon hattest.«
    »Ich muss Arbeit finden«, sage ich. Lettice Talbot lächelt.
    »Davon wird es jede Menge geben«, versichert sie mir.
    »Welche Art von Arbeit?«, frage ich hoffnungsvoll. Lettice Talbot sieht mich an. »Unbezahlbar«, murmelt sie. »Unbezahlbar.« Der Schmuckstein an ihrem Hals funkelt. »Du bist entzückend«, sagt sie weich und berührt meine Haut. »Aus dem, was du bist, lässt sich Kapital schlagen.« Ich nicke, obwohl ich keine Ahnung habe, was sie im Sinn hat, begreife aber, dass sie weiß, wie man sich in London verhält.
    Sie hat gute, ebenmäßige Zähne. Ihr Arm liegt leicht auf meinen Schultern.
    »Wir werden so gute Freundinnen werden«, sagt sie und drückt mich fest an sich.
    »Ich hatte noch nie eine richtige Freundin«, entgegne ich. »Nur Schwestern.«
    Sie hat mich überzeugt, weil ich keinen anderen Plan habe und auch nicht mehr grübeln will. Als ich mein schlichtes Bündel aus dem schrumpfenden Stapel hinter der Ladeklappe gezogen habe, wende ich mich Lettice Talbot zu, um ihr Lebewohl zu sagen. Aber sie gestikuliert mit jemandem, der oben an einem Fenster im Gasthaus steht, schüttelt heftig den Kopf und sieht nicht, dass ich auf sie warte. Ich klopfe mir den Schmutz von meinem Kleid, und als ich wieder aufsehe, ist sie verschwunden. Ich kann sie nirgends entdecken.
    Ich gehe zur Kutsche, um meine Fahrt zu bezahlen, und stelle fest, dass zwischen dem Kutscher und dem Mann im Überrock ein Streit über seinen Fahrpreis entbrannt ist.
    »Ich kann nichts dafür, dass es dem Volk an Münzen mangelt!«, schreit der Mann und schnauft selbstgerecht. »Dass du so wenig hast, ist dein Problem, nicht meines! Hier, nimm mein Zwei-Guineen-Stück und gib mir das Wechselgeld, das mir zusteht!«
    Der Bursche des Kutschers streckt seine schmutzige Hand nach meiner eigenen Guinee aus und beißt darauf. Als er die Münze in die Höhe hält und im Dämmerlicht genauer betrachtet, verändert sich seine Miene, und er wirft mir einen scharfen Blick zu. Ich habe plötzlich Angst, er könnte wissen, dass das Geld gestohlen ist. Aber woher sollte er das wissen? Er weiß es nicht. Mein Gesicht wird heiß, obwohl er mit den Schultern zuckt, die Münze in eine Tasche innen an seiner Weste fallen lässt und sich abwendet, um den Terrier des Kutschers von einem Hosenbein wegzuziehen. Der Hund bellt und zerrt an seiner Leine. Als ich mich umdrehe, steht der Bursche des Kutschers immer noch dort und starrt mir nach, als wollte er etwas sagen. Ich eile davon. In dem Gedränge drücke ich mein Bündel an mich und

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