Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition)
fror. Diese Art, ihre Gefühle zu verbergen, wurde zum Gerüst ihres Verhaltens, und von diesem Tag an änderte sich ihre Gemütslage nach außen hin nur selten.
In dem Raum in der Schenke ist es dunkler geworden.
Mir fällt auf, dass es nach den ersten Lügen sowohl einfacher als auch notwendiger wird, eine Scheinwelt zu erfinden. Ich muss ein vollständiges Lügengebäude errichten, wie eine notdürftige Hütte, und darin leben. Lettice Talbot klopft mit ihren langen, schlanken Fingern leicht auf die Tischplatte, dann öffnet sie ihr Köfferchen und holt eine kleine Flasche hervor. Sie zieht den Stöpsel heraus, legt einen Finger auf die Öffnung und kippt das Fläschchen ein wenig. Dann tupft sie sich die Flüssigkeit leicht an den Hals, und ein intensiver, schwindelerregender Duft nach rosafarbenen und cremeweißen und orangefarbenen Rosen hüllt uns ein. Ich fühle mich fast wie betäubt.
Woher soll ich wissen, ob sie mir zuhört, wenn sie nicht antwortet? Aber es ist auch unhöflich von mir, denke ich, sie auf diese Weise zu täuschen. Ihr Blick schweift durch den Raum, während ich rede. Sie beobachtet alles ganz genau. Ich muss mich zusammenreißen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis mein Gewissen vor lauter Geheimnissen ganz aufgebläht sein wird.
Ich hebe mein Glas am Stiel an und trinke den letzten Tropfen Brandy. Plötzlich habe ich das törichte Bedürfnis, etwas Wahres und keine Lüge mit ihr zu teilen. Ich lache und sage, dass es sich anfühlt, als würde man Feuer trinken. Sofort bedauere ich meine Worte, aber es spielt keine Rolle, weil Lettice Talbot mich nicht gehört hat. Sie ist aufgestanden und legt sich nun für die nächste Etappe unserer Reise wieder ihren gemusterten Schal um. Wie sauber und neu ihre Kleidung ist! Als sie ihre Handschuhe überstreift, erhasche ich einen Blick auf ihre Handgelenke und entdecke mit Schrecken, was mit ihnen geschehen ist.
6
Als wir nach draußen treten, stellen wir fest, dass das Wetter umschlägt. Meine Wangen glühen von dem Brandy, und die Welt um mich herum scheint zu schwanken. Der Himmel ist dunkel geworden, und Wolken sind aufgezogen. Die unangenehme Frau und ihre Tochter jammern, dass es Regen geben könnte, der ihre gestärkten Hauben schlaff machte. Die dicke Frau rutscht auf ihren schinkenähnlichen Oberschenkeln hin und her und macht eine große Sache daraus, ihre Haube gegen einen großen, hässlichen Hut auszutauschen, der ihr Gesicht verdeckt und mir teilweise die Sicht nach rechts versperrt. Beim letzten Läuten erscheint der Mann im Überrock und zieht sich auf den Wagen hinauf. Ein saurer, unreiner Geruch nach Pfeifenrauch und Urin dringt aus seiner Kleidung. Ich bin entsetzt, dass er Lettice Talbot einen anzüglichen Blick zuwirft, während er sich grob an ihr vorbeidrückt, und selbstgefällig grinst, als er ihre Beine berührt. Er wischt sich mit dem Handschuh ein wenig Speichel aus dem Mundwinkel, setzt sich heftig torkelnd auf seinen Platz und zieht sich zum Schlafen seinen Hut vors Gesicht. Lettice Talbot äußert sich nicht zu seinem Benehmen – es ist, als hätte sie es gar nicht bemerkt.
Die Pferde ziehen an und werden allmählich schneller. Wir verlassen Leatherhead.
Ich frage Lettice Talbot, warum sie mich nicht für mein Essen in der Schenke bezahlen lassen wollte. Ich war durch den Alkohol zu durcheinander, um zu protestieren, als sie Münzen abzählte und auf dem Tisch liegen ließ, bevor wir gingen. Doch sie schüttelt heftig den Kopf, als ich versuche, ihr das Geld zurückzuzahlen, und hebt die Hand, als ginge es um eine unbedeutende Angelegenheit.
»Aber ich habe Geld!«, sage ich etwas zu laut. Rasch legt sie einen behandschuhten Finger auf die Lippen.
»Pst! Leise!«, mahnt sie.
Also stehe ich jetzt in ihrer Schuld. Die Hitze, die sich durch den Branntwein in mir ausbreitet, lässt die Welt klar und unerträglich erscheinen. Es gelingt mir nicht, die Flut der Gedanken aufzuhalten, und leider fließen auch ein paar Tränen, durch die ich die Straße hinter uns nur noch verschwommen sehe. Es sind zu viele Sorgen, um sie alle gleichzeitig zu überdenken. Ich habe mich bemüht, bestimmte Gedanken in meinem Kopf von anderen getrennt zu halten, als könnte ein Chaos entstehen, wenn sie miteinander in Berührung kämen – wie die Feuersteine, die an einem trockenen Tag gegeneinanderschlagen und Funken sprühen, sodass die Heide brennt. Aber in diesem Moment kann ich nicht mehr verhindern, dass die Gedanken
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