Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition)
Geflügel, das an den Beinen aufgehängt ist, ein Kalbskopf mit weit geöffneten Augen, ein brauner Eimer voll Leber. Wo die Eingeweide ausgespült wurden, ist der Rinnstein rot vor Blut.
»Hier ist London Bridge! Bridge!«, ertönt endlich die Stimme des Kutschers von vorne. Die anderen Fahrgäste bewegen sich auf ihren Plätzen und unterhalten sich. Die dicke Lady schmiert sich etwas Weißes aus einem kleinen Töpfchen ins Gesicht. Die London Bridge ist groß und belebt, ganz anders als alle Brücken, die ich kenne. Sie ist so breit wie eine Straße und gesäumt von Läden. Männer arbeiten in Kolonnen zwischen den Gebäuden auf Schutthaufen, wo Gebäudereste in die Luft ragen wie geschwärzte Rippen. Ich starre erstaunt auf einen ungekämmten Mann, der in einer Ecke zwischen zwei Wänden sein Lager aufgeschlagen hat. Er kauert vor einem Herd und unterhält mit Stöcken ein kleines Feuer. Der Rauch treibt als dünne, erstickende Säule in den Weg des Verkehrs. Er riecht bitter und nach Teer und beißt mir in den Augen. Als der Wagen vorbeifährt, steht der Mann plötzlich auf und wendet uns den Kopf zu, als wäre es seine Aufgabe, jede Einreise in die Stadt zu überwachen. Sein Mantel ist dunkel.
Der Fluss unter uns riecht nach Seetang und Schlick und fauligem Abfall.
Eisenräder rattern laut über das Kopfsteinpflaster. Der Verkehr verknotet und entknotet sich in alle Richtungen. Ich habe noch nie so viel auf einmal gesehen: Pferde, Karren, Kutschen voller Passagiere, schnelle Einspänner und Pferdewagen, Jungen, die Sänften tragen, sogar einen Mann, der auf der Mitte der Straße zwei weiße Ochsen vor sich hertreibt. Der Lärm betäubt mich, und ich halte mich seitlich am Wagen fest, als wäre ich auf einem stampfenden Boot auf rauer See.
Lettice Talbot ruft laut die Namen der Straßen, durch die wir fahren.
»Fish Hill Street, Gracechurch Street, Cornhill, Poultry«, sagt sie über den Lärm hinweg. Cheapside ist eine breite, schöne Straße, die von Läden gesäumt ist, in deren Glasfronten sich das Nachmittagslicht spiegelt. Scharen von Leuten gehen ein und aus. Viele Gesichter sind geisterhaft blass geschminkt, und viele Köpfe sind grau gepudert.
»Sie haben so viele Kleidungsstücke an!«, rufe ich Lettice Talbot zu.
Das Geräusch von splitterndem Glas weiter oben in der Straße lässt mich zusammenfahren. Ich höre Betrunkene grölen und das Trommeln rennender Füße.
»Eine Hinrichtung!«, ruft sie. »Heute war eine Hinrichtung. Die meisten Leute gehen ruhig nach Hause, wenn es vorbei ist, aber entlang der Strecke herrscht immer ein Durcheinander, und in den Schenken und an Straßenecken kommt es zu Streitigkeiten. Es kann recht ungebärdig zugehen.« Sie wendet den Kopf ab. »Der Geruch nach jähem Tod lässt gewalttätige Männer in einen Blutrausch geraten.«
»Was?«, frage ich und mühe mich, sie zu verstehen.
»Es gibt Gewalttätigkeiten!«, schreit sie. »Am besten begibst du dich rasch zu deiner Verwandten!«
»Entlang welcher Strecke?«, fragte ich und beuge mich näher zu ihr, damit ich sie verstehe. Der Wagen schlingert. »Wo sind die Unruhen?«
»Auf dem Weg, den der Karren mit dem Verurteilten nimmt, zwischen dem Newgate Prison und dem Galgenbaum in Tyburn.«
»Wohin?«
»Zum Galgenbaum!« Sie lacht fröhlich. »Gerechtigkeit, mein Schätzchen!« Ich fröstele und ziehe meinen Umhang enger um mich.
Wir biegen in eine düstere Gasse ein und fahren auf den großen Hof des Cross Keys Inn. Besorgt sehe ich, dass viele Menschen drängelnd und stoßend versuchen, zum Wagen zu gelangen. Lettice Talbot beugt sich vor.
»Sind wir da?«, frage ich sie.
»Steig hier ab, Agnes«, rät sie mir freundlich. »Ich bin hier am Ziel.« Ich schrecke vor der Vorstellung zurück und würde mich am liebsten so klein wie ein Mäuschen oder ein Spatz machen und auf der Stelle nach Sussex zurückfahren, indem ich mich auf dem staubigen Boden des Wagens unter den Rosshaarsitzen zwischen den Füßen der Leute versteckte. Aber natürlich geht das nicht. Meine Reise gehört zu jener Art von Reisen, die nicht rückgängig zu machen sind. Also klettere ich mit Mühe über die Räder nach unten. Meine Füße stehen auf dem Londoner Kopfsteinpflaster, und meine Lungen atmen den teerigen Rauch ein, der über dem Hof hängt. Mir kommt es vor, als wäre ich eine völlig andere Person, die an einem Ort namens London ankommt – im Traum. Ich stelle mir immer wieder vor, dass jemand ausruft: »Hör auf damit,
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