Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition)
voraus zum Ende der Wintermonate, wenn die Vorräte zur Neige gehen. Aber dann fällt mir wieder ein, warum ich hier bin und dass es nicht von Dauer sein kann.
Ich muss Lettice Talbot finden.
Am vernünftigsten wäre es, mit meiner Suche dort zu beginnen, wo ich sie zuletzt gesehen habe. Sie ist der einzige Mensch, der mir helfen könnte, wenn das Unvermeidbare passiert und ich nicht länger bei Blacklock bleiben kann. Sie hat gesagt, dass es Arbeit für mich gebe und dass sie meine Freundin sei.
Als ich eines Tages sehr früh aufwache, noch vor Tagesanbruch, ziehe ich die Riegel zurück, schlüpfe in die kühle Dämmerung hinaus und wandere den Weg zum Cross Keys Inn zurück, um nach Lettice Talbot zu suchen. Ab und zu muss ich nach dem Weg fragen, aber es ist nicht sehr weit. Die Straßen summen von den Schritten der Arbeiter und Ladenbesitzer, die ihren Geschäften nachgehen, und es sind schon einige wenige Wagen unterwegs. Die Glocke der Kirche an der Ecke Wood Street hat noch nicht acht Uhr geschlagen. Vor dem Gasthof spült ein schmutziges Kind Flaschen aus und stellt sie zum Trocknen auf. Ich spreche es an und versuche, ihm eine Nachricht für Lettice Talbot aufzutragen. Die Hände des Mädchens sind rot vor Kälte. Es sieht mich verständnislos an und läuft dann in ein Nebengebäude. Kurz darauf kehrt es mit einem Mann zurück, der sich die Hände an einem Stück Stoff abwischt. Er scheint nicht zu wissen, wer Lettice Talbot ist. Deshalb beschreibe ich, so gut ich es in Erinnerung habe, ihre lockigen braunen Haare, ihr gemustertes Umschlagtuch und ihren kleinen Lederkoffer. Er schüttelt den Kopf und zuckt mit den Schultern.
»Wie kommst du darauf, dass sie hier ist, Frau?«, fragt er unhöflich. Seine Stimme ist heiser, und ein Geruch nach starkem Schnaps geht von ihm aus. »Jede Menge Reisende kommen jeden Tag durch Cross Keys, zu viele, um sich um Namen zu kümmern.« Er deutet mit dem Daumen auf den belebten Hof, als wäre ich schwer von Begriff.
»Aber mehr weiß ich nicht von ihr«, sage ich und bin ratlos, wie ich sie noch genauer beschreiben soll. Dann berühre ich meinen Hals oberhalb des Kragens.
»Hier trägt sie einen Schmuckstein, keinen Diamanten«, sage ich, und so etwas wie ein Grinsen huscht über das Gesicht des Mannes. Er beugt sich hinunter zu dem Mädchen und sagt etwas zu ihm, was ich nicht verstehen kann. Es kichert und läuft wackelnd auf der Straße davon. Der Mann geht ins Haus. Hat er gemeint, ich solle warten, während das Kind Lettice Talbot suchen gegangen ist? Ich setze mich auf den Aufsitzblock in dem eiskalten, geschäftigen Hof und ziehe meinen Umhang fester um mich. Ich warte, bis ich in der Kälte fast ohnmächtig werde, und immer noch ist nichts von dem Mädchen zu sehen. Niemand spricht mich an, und die Uhr von St. Dunstan’s schlägt neun, bevor ich begreife, dass sie nicht zurückkehren wird. Ich werde viel zu spät zur Arbeit kommen.
Als ich den Hof verlasse, werfe ich einen Blick in die Ställe. Dort drinnen riecht es übel und muffig. Ich höre ein Wiehern und das Klappern von Hufen. Ein Junge striegelt gerade ein großes Kutschpferd und reckt den Arm in die Höhe, um dem Pferd die Bürste über die Flanke zu ziehen. Als er aufsieht und unsere Blicke sich begegnen, erkenne ich in ihm den Gehilfen des Kutschers, der meine Guinee genommen hat. Zu meiner Verblüffung scheint auch er mich wiederzuerkennen. Er hört auf zu arbeiten und ruft nach jemandem im Stall, den ich nicht sehen kann.
»Mr. Haines! Mr. Haines!«, schreit er und macht eine Handbewegung, als wollte er mich unbedingt aufhalten.
Erschrocken drehe ich mich um und verlasse eilig den Hof. Ich höre nicht auf zu laufen, bis ich nicht mehr kann. Die Luft ist so kalt, dass sie mir beim heftigen Atmen in der Brust sticht. Ich sehe mich um – Gott sei Dank ist mir niemand gefolgt!
Auf dem Rückweg zum Haus habe ich das Gefühl, beobachtet zu werden, aber ich sehe nur einen roten Milan hoch oben am Himmel über den Straßen kreisen. Beinahe kann ich seinen Schatten über mir spüren. In dieser Stadt gibt es so viele Augen.
Ich habe das Frühstück verpasst und bin sehr hungrig, aber ich habe keine Zeit mehr. Als Mrs. Blight nicht hinsieht, stecke ich den Finger in den Haferbreitopf und lecke ihn dann sauber.
»Ich dulde keine Verspätung«, sagt Mr. Blacklock kalt, ohne sich umzudrehen, als ich versuche, unbemerkt in die Werkstatt zu schlüpfen. »Du wirst morgen, übermorgen und an keinem
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