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Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition)

Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Borodale
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räume gerade nach der Mahlzeit die Teller vom Tisch.
    Natürlich denke ich an Mrs. Mellin und ihre heraushängende Zunge. »Oh nein, noch nie«, sage ich und tue so, als würde ich schaudern.
    »Was würdest du tun, wenn du eine sehen würdest?«, fragt sie hartnäckig. Ich denke an Mutters Totgeburten, die zu früh gekommen sind, schwache, blutige Körperchen, so klein wie Tauben. Ich denke an die geteerte und schwarz gewordene Leiche, die hoch am Galgen von Burnt Oak Gate schwang. »Was würdest du tun?«, wiederholt Mary.
    »Vielleicht würde ich mich umdrehen und davonlaufen«, entgegne ich kurz angebunden. Ich weiß nicht, warum sie mir diese Frage stellen muss.
    »Die Polizei rufen, das solltest du lieber tun.«
    »Vielleicht.« Warum reitet sie so darauf herum?, frage ich mich.
    »Und wenn es nun kein natürlicher Tod wäre, sondern ein Verbrechen? Sag!« Mary Spurrens Gesicht ist leuchtend rot. »Du bräuchtest das Gesetz auf deiner Seite!«
    »Das Gesetz reicht nicht immer«, sage ich voller Unbehagen. Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf, und ich höre mich selbst verkünden: »Das Gesetz ist die Antwort des armen Mannes auf die Unregelmäßigkeiten des Schicksals.« So würde mein Bruder Ab reden.
    Sie sieht mich aus halb zusammengekniffenen Augen an.
    Ich begreife, dass ich einen Fehler gemacht habe. Meine Mutter würde sagen, dass diese Art von Gerede Schwierigkeiten heraufbeschwört. Rasch füge ich hinzu, als wollte ich meine unbedachten Worte rechtfertigen: »Ich meine, dass Gott die Macht besitzt.«
    »Gott?« Sie kratzt sich verwirrt am Kopf. »Jesus im Himmel!« Wieder wischt sie sich über die Nase, wirft Mrs. Blight einen Seitenblick zu und kichert. »Sie hat noch nie eine Leiche gesehen.«
    »Auf dem Weg nach London hing ein Mann an einem Galgen«, sage ich, als wäre es mir gerade eingefallen. »Das, was noch von ihm übrig war, nachdem er gehängt worden war. Später habe ich geträumt, dass er neben der Kutsche hergeht«, füge ich hinzu. »Zumindest glaube ich, dass er es war. Er war wütend, und er hatte einen roten, wund geriebenen Hals.«
    »Höchstwahrscheinlich war es so«, flüstert Mary Spurren schwermütig. »Die unsteten Toten wandern auf den alten Wegen auf der Suche nach irgendwas.«
    »Auf der Suche nach was?«
    »Keine Ahnung. Wahrscheinlich nach Frieden für ihre schuldigen Seelen. Etwas Ruhiges, an dem sie sich festhalten können.« Ein Frösteln überkommt mich.
    »Ich hab meine erste Leiche gesehen, als ich noch ein zierliches Persönchen war«, sagt Mrs. Blight von ihrem Stuhl am Herd aus. »Als er aufgebahrt dalag, haben sie mich die ganze Nacht neben ihn gesetzt, aber ich habe vor meinem lebendigen Großvater mehr Angst gehabt als vor seiner Leiche«, fährt Mrs. Blight fort. »Er war hoch aufgeschossen und ein Tyrann, der mich zwickte, wann immer es ihm passte, zum Beispiel, wenn er plötzlich schlechter Laune war, weil ich den Katechismus falsch aufgesagt hab.« Sie schnaubte. »Hat mich aber sonntags in der Kirche nie erwischt. Eine ordentliche passive Sünderin war ich. Keine Gebete, nichts! Man muss sich doch nicht einen spitzen Stock ins Auge stechen, wenn es nicht sein muss, oder?« Und sie lacht lauter als nötig, als müsste sie etwas beweisen oder als hoffte sie, dass Gott sie vielleicht hören würde.
    »Bist du eine Kirchgängerin?«, fragt sie mich.
    »Nein«, sage ich und sehe weg. »Nicht mehr.« Aber ich würde gerne in die St. Stephen Church gehen, denke ich, in die hinter dem Haus. Sie wirkt so friedlich.
    Nachdem ich mich an diesem Abend in meine Kammer zurückgezogen habe, blase ich die Kerze nicht sofort aus, sondern bleibe zitternd auf dem Bettrand sitzen und trenne den roten Faden aus meinen auf links gedrehten Röcken heraus. Wie schmutzig der Saum geworden ist, denke ich. Ich mag den roten Faden nicht. Er ist zu dick und zu aufdringlich, wie die Würmer, die wir vergangene Woche in dem Stück Weißfisch gefunden haben, das Mary Spurren auf dem Markt von Billingsgate gekauft hat. Erleichtert ziehe ich das letzte, sich windende Fadenende aus dem Stoff und verstaue die Münzen wieder in meinem Mieder. Dort fühlt es sich sicherer an, weniger offensichtlich.
    Am folgenden Morgen suchen Joe Thomazins Augen meinen Rock nach dem roten Faden ab, immer wieder, und seine Augen scheinen zu fragen: Wohin ist das Geheimnis verschwunden?
    Ich zucke leicht die Schultern und wende mich dann ab, um seinen verletzten Blick nicht sehen zu

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