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Die Feen - Hallmann, M: Feen

Die Feen - Hallmann, M: Feen

Titel: Die Feen - Hallmann, M: Feen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maike Hallmann
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dauerte es keine zwei Sekunden, bis alle aufmerksam nach vorn schauten. Auf Miss Teagles dünnen Lippen breitete sich ein ebenso dünnes Lächeln aus. »Guten Morgen.« Ihre Stimme erinnerte an das Pfeifen eines Wasserkessels. »Ich hoffe, Sie alle hatten schöne Ferien. Und ich hoffe, die Vorbereitung auf unseren Lehrplan dieses Jahr hat Ihnen nicht die Stimmung verdorben.« Sie tippte auf das Pult, und hinter ihr gleißte die Projektion eines Beamers auf der weißen Wand auf.
    Überrascht hob Benny die Brauen. Miss Teagle und ein Beamer, das schien ihm so gut zu passen wie ein Dinosaurier, der im ICE zu seinem nächsten Weidegrund fuhr.
    Der Tod in der Literatur stand auf der Wand. Erneut tippte Miss Teagle das Pult an, und unter der Schrift erschien ein animierter Totenkopf, der die Klasse ankicherte. Vereinzelt kicherte jemand mit, und über Miss Teagles Gesicht huschte ein verschmitztes Lächeln. »Sie haben sich hoffentlich mit der Literaturliste beschäftigt«, sagte sie. »Und vielleicht haben Sie ja auch schon Vorlieben gefasst und sich überlegt, mit welchem Schriftsteller oder Text Sie sich in diesem Halbjahr beschäftigen möchten. Heute steigen wir mit einem recht einfachen Text ein, auch einem vergleichsweise kurzen – Edgar Allan Poes Der Rabe . Mister Stone, haben Sie es gelesen?«
    Miles Cooper und seine Leute saßen ganz hinten. Benny wandte sich um und sah, wie Stone kaum merklich den Kopf schüttelte.
    »Sie lernen wohl nie dazu?«, seufzte Miss Teagle. »Na, wer hat es gelesen? Alle anderen, möchte ich doch hoffen. Mister Green, wie sieht es mit Ihnen aus, möchten Sie uns eine kurze Zusammenfassung geben?«
    Daniel Green, der zwei Tische vor Oliver und Benny saß, nickte und stand auf. »Gern. Edgar Allan Poes Der Rabe , verfasst von Edgar Allan Poe in, den Angaben des Autors zufolge, zehn Jahren Arbeit, erstmalig veröffentlicht 1845 im New Yorker Evening Mirror . Achtzehn Strophen, auffallend originelles Versmaß.« Er ratterte eine rasche Beschreibung herunter, in der Benny nur das Wort Metrik verstand. Anschließend setzte er sich wieder.
    »Schön«, sagte die Teagle. »Dann haben wir ja die nackten Zahlen schon mal abgehakt. Möchte noch jemand ein paar Worte über den Inhalt dieser in originellem Versmaß verfassten Zeilen verlieren?«
    »Ich möchte das sehr gern«, sagte Richard.
    »Mister Dickenson, ich habe es befürchtet. Bitte.«
    Richard stand auf und räusperte sich. »Fürchterlicher Sturm draußen. Ein Gelehrter sitzt in seinem Zimmer und schmachtet seiner toten Geliebten hinterher. Ein Klopfen schreckt ihn auf, ein Klopfen an der Tür, doch als er nachschaut, ist niemand da. Müssen wohl die losen Fensterläden gewesen sein, die das Gewitter kürzlich losgerissen …«
    »Wenn Sie es nicht ein wenig mehr raffen, können wir auch gleich das ganze Gedicht lesen«, tadelte Miss Teagle.
    »Verzeihung.« Richard senkte den Kopf. »Es klopft erneut, ein Rabe kommt herein. Er fliegt auf die Büste der Pallas und bleibt dort sitzen. Der Gelehrte richtet einige Fragen an ihn, beginnend mit der nach seinem Namen. Auf jede Frage antwortet der Rabe: Nimmermehr. Unser Gelehrter stellt immer weiter Fragen, abschließend die, ob er seine Geliebte dereinst wiedersehen wird. Die naheliegende Antwort gefällt ihm nicht, und er bringt sich um.«
    »Aha.« Miss Teagle lächelte. »Eine interessante Interpretation.«
    »Danke!«
    »Sie können sich gern wieder setzen.«
    »Ich danke nochmals.« Richard strahlte sie an und setzte sich wieder.
    »Welchen wichtigen Punkt hat Mister Dickenson gerade übersehen?«
    Richard sprang auf.
    »Mister Dickenson?«
    »Die Klimax«, sagte er. »Das lyrische Ich stellt natürlich nicht einfach nur irgendwelche Fragen. Es beginnt mit einfachen und alltäglichen, man könnte sogar sagen, allgemeinen Fragen. Zunehmend werden sie konkreter, und am Ende stellt es die einzige Frage, deren Antwort es wirklich interessiert.«
    »Sehr schön. Setzen Sie sich bitte wieder.«
    »Danke.«
    »Da sieht man mal, wie nötig er es hat, sich aufzuspielen«, flüsterte Oliver Benny zu. »Schau, wie aufgeplustert er ist.«
    »Möchte noch jemand etwas zum Selbstmord des lyrischen Ichs am Ende des letzten Verses sagen?«, fragte Miss Teagle.
    Ein Schüler, an den sich Benny vage vom Frühstück erinnerte, meldete sich.
    »Mister Flint?«
    »Das ist Unsinn. Es gibt keinerlei Hinweis auf einen Selbstmord.«
    »Vielen Dank.«
    »Weil ihr nicht weiterdenkt«, empörte sich Richard.

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