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Die Feen - Hallmann, M: Feen

Die Feen - Hallmann, M: Feen

Titel: Die Feen - Hallmann, M: Feen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maike Hallmann
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»Man muss über den Horizont des Textes hinausschauen. Nur weil da nicht wortwörtlich steht …«
    »Mister Dickenson!«
    »Ich bin aber ganz sicher, dass er sich umbringt«, beharrte Richard. »Weshalb sonst sollte er im Schatten des Raben liegen und sich nie mehr erheben?«
    »Vielleicht, weil er nicht will?«, rutschte es Benny heraus. Miss Teagle wandte ihm die scharfen kleinen Augen zu. »Mister Reutter, richtig?«
    »Ja, richtig«, murmelte er. Zum zweiten Mal heute stieg ihm das Blut in ausreichender Menge in den Kopf, um auch einen weit größeren Schädel als seinen zum Platzen zu bringen.
    »Weil er nicht will«, wiederholte sie. »Vermutlich spielen Sie auf die Anmerkungen des Autors zu seinem eigenen Gedicht an. Sie alle werden es sich selbstverständlich so bequem gemacht haben, sie zu lesen.«
    »Ich habe nichts gelesen«, gestand er. »Ich kenne das Gedicht, aber ich habe nicht gewusst, dass wir es zu Beginn des Schuljahrs gelesen haben sollen.«
    »So. Das ist ein Versäumnis, das Sie sich vermutlich selbst anzulasten haben.«
    Verlegen nickte er. »Vermutlich.«
    »Umso interessanter Ihre Bemerkung. Das lyrische Ich erhebt sich also nicht wieder aus dem Schatten, weil es nicht will, so sagten Sie?«
    Es war eine ganze Weile her, dass Benny Poe gelesen hatte. »Der Rabe«, versuchte er sich mit dem, was er in Erinnerung behalten hatte, »der Rabe ist ein Symbol für die, äh, für die Vergänglichkeit. Nach dem Tod seiner Frau kann der Erzähl… das lyrische Ich sie nicht mehr verdrängen. Das Wissen um die Vergänglichkeit bleibt bei ihm. Es lässt sich nicht mehr vertreiben. Er lebt in seinem Schatten.« Er runzelte die Stirn. Ging doch. »Alles, was ist, vergeht«, schloss er dramatisch.
    »Verzeihung«, mischte sich jemand ein. Es war Cooper. Er grinste abfällig. »Aber der Rabe ist ein Symbol für etwas ganz anderes. Und zwar für die Erinnerung selbst.« Seine Stimme wurde salbungsvoll. »Das Sinnbild der trauervollen Erinnerung, die nie endet.«
    Benny zuckte mit den Schultern. »Das kann man sicher so sehen. Aber ich finde …«
    »Man sollte nicht finden, sondern belegen«, erwiderte Cooper hochnäsig.
    »Und du kannst das sicher prima belegen«, spottete Oliver, hob sein Buch und las vor: »… doch erst in der letzten Zeile der letzten Strophe lässt sich die Absicht, ihn zum Sinnbild trauervoller und nie endender Erinnerung zu machen, eindeutig erkennen.« Er ließ das Buch wieder sinken. »Glaub nicht, ich habe nicht gesehen, wie du eben schnell nachgeblättert hast.«
    Cooper lief knallrot an, das weiße Pflaster quer über seiner Nase schien im Kontrast dazu regelrecht aufzuleuchten. »Ich habe es nachgeschlagen, ja. Aber trotzdem geht es nicht darum, was man findet, sondern was man belegen kann. Und es geht ja nicht um die Frage, ob irgendwas vergänglich ist, sondern ob das lyrische Ich seine Tussi im Himmel wiedersieht. Und da sagt der Rabe eben Nein. Und dann klappt der Typ zusammen. Darum geht es!«
    »Meine Herren.« Miss Teagle hob die Hände. »Es freut mich von Herzen, wenn Sie sich so sehr für Literatur begeistern, dass regelrechte Streitgespräche entbrennen. Wirklich. Das ist ganz herrlich. Ganz besonders von Ihnen, Mister Cooper, bin ich ausgesprochen positiv überrascht. Da haben Sie doch tatsächlich mal die Sekundärliteratur bemüht, zumindest zeilenweise. Aber ich würde gern noch einmal auf die Vergänglichkeit zu sprechen kommen. Gerade Edgar Allan Poe hat so viel Wert auf Mehrdeutigkeit gelegt, dass wir ihm den Gefallen tun sollten, nach eben dieser Mehrdeutigkeit zu suchen. Was ein Autor in seinen Texten mitzuteilen beabsichtigt, ist das eine. Was tatsächlich darin mitschwingt, oft genug etwas anderes, mitunter sogar etwas Vielschichtigeres. Und das ist tatsächlich etwas, das ich gern mit Ihnen im kommenden halben Jahr herausarbeiten würde – die verschiedenen Lesarten von Texten. Bleiben wir jedoch erst einmal …«
    Benny schaltete ab. Es war vertraut, er konnte nicht viel dagegen tun. Mit einem Mal wurde es nicht nur uninteressant, was geredet wurde, sondern ging einfach an ihm vorbei. Mit aller Macht hätte er sich konzentrieren können, die Worte ergaben schlicht keinen Sinn.
    Oliver beugte sich zu ihm. »Dieser Vollidiot von Cooper«, flüsterte er. »Da …«
    »Ich brauche keine Schützenhilfe«, flüsterte Benny zurück. »Nett gemeint, aber nicht nötig.«
    Erstaunt hob Oliver die Brauen. »Schon gut. Ich habe nicht gedacht, dass du Hilfe

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