Die Feen - Hallmann, M: Feen
geradeaus, ohne dass man irgendwo abbiegen konnte. Fast fühlte er sich verspottet von den alten Mauern, als wäre das Gebäude lebendig und baute sich selbst ständig neu, um zuzuschauen, wie er in die Irre lief und versuchte, ein System zu erkennen, das es nicht gab. Fragen konnte er niemanden – die nächste Stunde hatte bereits angefangen, und die Gänge waren menschenleer.
Schließlich aber fand er, was er suchte, ganz oben im Turm, wo die Bibliothek zwei volle Etagen einnahm. Er trat durch eine pompöse Flügeltür, die mehr als doppelt so hoch war wie er und ihm das Gefühl vermittelte, er wäre höchstens fünf Jahre alt. Die Türen standen offen und sahen uralt aus, als hätten sie schon vor Jahrhunderten eine Bibliothek bewacht, und von hoch oben, fast zwei Meter über seinem Kopf, schaute die Skulptur irgendeines Geschöpfs auf ihn herunter, das über dem Rahmen hockte. Genaueres konnte er nicht erkennen, dort oben unter der Decke verlor sich alles im Halbdunkel.
Vorn gab es mehrere unterschiedlich große Tische, um die dunkelrot plüschige Lehnsessel gruppiert waren. Einen Kamin gab es auch, allerdings war er kahl und leer, direkt daneben entdeckte Benny die Rippen einer nicht allzu modernen Heizung. Der Temperatur nach war sie nicht eingeschaltet, es war so eisig, als hätte er soeben die Arktis betreten. Einen wuchtigen Tresen gab es, und direkt daneben führten lange, schummrige Gänge zwischen Regalen hindurch in die Tiefen der Bibliothek. Mit der eher gemütlichen Bibliothek aus Bennys Vorstellung, in der sich deckenhohe Regale an den Wänden reihten und eine kleine, hutzlige Bibliothekarin eifrig auf einer verschiebbaren Leiter herumturnte, hatte das hier nicht viel zu tun, es war enttäuschend nüchtern. Nicht ganz so kahl wie die Bücherhallen in Hamburg und auch nicht so klein und eng wie die Bibliothek an der Uni, in der er manchmal auf seinen Vater gewartet hatte, aber eindeutig nicht das pompöse Ding, das er erwartet hatte. Auch wenn an den Wänden die Regale tatsächlich bis an die gut fünf oder sechs Meter hohe Decke reichten. Aber die obersten Regalfächer waren leer, und die anderen Regale waren ganz stinknormale Dinger, keine alten und schönen Holzmöbel, sondern Sperrholz und Chrom, das im Licht der eher spärlich verteilten Lampen kühl glänzte. An einer Wand reihten sich mehrere Computer.
Es war niemand zu sehen. Er ging zum Tresen. Auch dort war niemand. »Hallo?«
Nichts. Er bildete sich ein, das Echo seiner Stimme durch die Gänge aus Bücherregalen hallen zu hören.
»Miss Fish?«
Nichts. Unschlüssig schaute er hinter den Tresen, als sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie sich dort versteckte, ging ein paar zögerliche Schritte in einen, dann in einen anderen Gang hinein. »Hallo?«
»Hallo«, sagte jemand direkt hinter ihm. Vor Schreck fuhr er heftig zusammen.
»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte die Stimme.
Benny drehte sich um und stand vor einem dunkelhaarigen Mädchen, das ihn um fast einen halben Kopf überragte.
»Wenn du jemanden nicht erschrecken willst«, raunzte er, »solltest du dich nicht so anschleichen. Nur mal so als Tipp.«
»Tut mir leid«, sagte sie und betrachtete ihn, wie ihm schien, spöttisch. »Was kann ich denn für dich tun?«
»Ich müsste zu Miss Fish. Und einen Kopierer brauche ich.«
»Die Kopierer stehen da drüben im Nebenraum.« Sie zeigte mit einem blassen, langen Finger auf eine kleine Tür neben den Computern. »Und Miss Fish bin ich.«
Benny lief rot an. »Ich …«
Sie hob die Brauen, jetzt eindeutig spöttisch.
»Aber Sie sind …«, stammelte er.
»Vierundzwanzig«, erwiderte sie trocken.
»Das meine ich nicht. Also, ich dachte …«
»Dass ich ungefähr siebzig bin. Ja, dachte ich mir. Bibliothekarinnen sind überhaupt immer mindestens fünfzig. Das liegt daran, weil man Bibliothekswesen so ungeheuer lange studieren muss, es ist unglaublich kompliziert. Man kann erst anfangen zu arbeiten, wenn man schon fast wieder in Rente geht.« Sie verdrehte die Augen.
»Äh«, sagte er. »Nein. Nein, es muss natürlich auch jüngere Bibliothekare … Bibliothekarinnen geben. Klar.« Er hätte sich gern selbst geohrfeigt.
Sie betrachtete ihn. Unter den Augen hatte sie tiefe Schatten, als habe sie zu wenig geschlafen. »Was wolltest du denn von mir?«
»Was?«
»Na, du wolltest etwas kopieren, und du wolltest zu mir«, erinnerte sie ihn.
»Ja, stimmt. Also, ich bin neu hier. Ich meine … also, mein Pate hat
Weitere Kostenlose Bücher