Die fernen Tage der Liebe
beiden auch treiben mochten, vorbei waren jedenfalls
die Zeiten, als sie sich noch im Hausflur oder im Wohnzimmer oder im Esszimmer oder im Familienzimmer versteckt und darauf
gewartet hatten, dass er nach Hause kam und nach ihnen rief und dann Colleen zuschrie: »Ruf die Polizei, jemand hat die Kinder
ausgebüxt
!«
» Ausgebüxt ?«
, hatte Colleen theatralisch zurückgeschrien.
» Ja, ausgebüxt !«
Er hatte sie kichern hören und darauf warten, dass das Nachlaufen begann.
Mike sah Colleen zu, wie sie den Tisch abwischte. Seit er insHaus gekommen war, hatte er mehr von ihrem Hintern als von ihrem Gesicht zu sehen bekommen.
»Dann gehe ich wohl mal auspacken«, verkündete er.
»Oh, warte mal. Nicht zu glauben, dass ich das vergessen habe. Du kommst im Leben nicht drauf, wer heute angerufen hat.«
Mike spürte einen Adrenalinstoß, aber noch im selben Moment beruhigte er sich, dass Colleen, falls Stephanie angerufen hätte,
diese Nachricht wohl kaum so lange aufgeschoben hätte. Sie hätte am Küchentisch gesessen, als er heimkam. Wartend.
»Wer?«, fragte er.
»Dein Bruder.«
Das verhieß ebenfalls nichts Gutes, aber verglichen mit der ersten Variante war es immer noch ein Klacks. Mike vermutete,
dass der Anruf irgendetwas mit dem Brief zu tun hatte, den er erhalten und prompt ungeöffnet in seine Aktentasche geworfen
hatte. Vielleicht hätte er ihn lesen sollen. Aber ihm hatte schon gereicht, die Handschrift seines Vaters zu erkennen, um
zu beschließen, dass er sich später darum kümmern würde – was auch immer es war, weswegen sein Vater geschrieben hatte. Vielleicht
süffelte er ja wieder Jack Daniels.
»Mike? Hörst du mir überhaupt zu?
»Entschuldige, mir ging nur gerade etwas von der Arbeit durch den Kopf.« Er setzte seine Reisetasche ab. »Also, Nick hat angerufen?«
»Ja. Es ist schon so lange her, dass ich anfangs gar nicht wusste, wer dran war. Und es war ein ziemlich seltsamer Anruf.«
Ein seltsamer Anruf.
Seltsam war, dass Nick überhaupt angerufen hatte. Normalerweise wurde er alle Botschaften bei Marcy los. Zum Beispiel die
über Marilyns Tod. Klar, das musste damals schrecklich für Nick gewesen sein. Offenbar hatte er eine schlimme Zeit durchgemacht.
Aber hätte er nicht wenigstensseinen eigenen Bruder anrufen und ihm die Nachricht selbst mitteilen können? Musste er unbedingt Marcy damit beauftragen?
Was hatte er, Mike, seinem Bruder denn eigentlich so Schreckliches angetan? Wenn Not am Mann war, rannte Nick offenbar immer
gleich zu Marcy. Und umgekehrt. Was sollte das eigentlich?
»Geht es dir gut, Mike?«
»Alles bestens. Warum?«
»Willst du überhaupt nicht wissen, warum ich den Anruf so seltsam fand?«
Mike lachte, um die Verärgerung zu überspielen, die in ihm aufwallte. »Warum war es denn so ein seltsamer Anruf, Col?«
Colleen griff nach dem Block, den sie immer neben dem Telefon liegen hatte. »Na ja, Mick sagte, wahrscheinlich sei alles in
Ordnung, aber du sollst ihn trotzdem auf jeden Fall sofort wegen dieser Nachricht anrufen, die euer Vater ihm hinterlassen
hat.«
Sie reichte Mike den Zettel.
10-10. Aufgang 8. Da sind wir am 17. Juni.
Mike wusste sofort und ganz genau, was das zu bedeuten hatte. Aber was auch immer am 17. Juni – also morgen – geschehen würde,
es würde auf jeden Fall ohne ihn geschehen. Er hätte doch den Brief seines Vaters lesen sollen. Hoffentlich lag er noch in
seiner Aktentasche.
»Michael, was soll das alles heißen?«
Er hätte wahrheitsgemäß sagen können, dass er nicht wusste, was das alles heißen sollte, aber er war sich nicht sicher, ob
er Colleen auch diesmal wieder damit beschwichtigen konnte. Etwas an der Art, wie sie die Frage gestellt hatte, ließ aus den
Tiefen seines Bewusstseins die nagende Erkenntnis wieder aufsteigen, dass Colleen nach 23 Jahren Ehe eigentlich verdient gehabt
hätte, mehr über seine Familie zu wissen, als er preiszugeben bereit war. Mike hatte sich inzwischen zu einem solchen Expertendarin entwickelt, dieses Thema zu umschiffen, dass Monate ins Land gehen konnten, ohne dass er überhaupt auf den Gedanken
kam, dass er mit diesem Teil seines Lebens – wie Colleen es ihm vor langer Zeit einmal vorgehalten hatte – egoistisch umging.
Sie hatte gelernt, damit zu leben. Und nun drohte Nick all das mit einem simplen Anruf kaputt zu machen.
Es klingelte an der Tür. Sofort hörte Mike über sich ein dumpfes Stampfen.
»Ich mach schon auf«, schrie Clare,
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