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Die fernen Tage der Liebe

Die fernen Tage der Liebe

Titel: Die fernen Tage der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James King
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zufolge er vollkommen reglos dasaß. Wie ein Toter.
    Ihre Hände zitterten, aber immerhin schaffte sie es, den Schlüssel in die Zündung zu bugsieren. Sie schluckte die Galle hinunter,
     die ihr hochstieg, und zwang sich, nur an die Aufgabe zu denken, die unmittelbar vor ihr lag:
Beim Starten des Motors Fuß auf der Bremse lassen. Weiter auf der Bremse lassen und auf D gehen. Langsam – immer schön sachte
     – die Bremse kommen lassen. Noch mal in die Spiegel schauen. Gaspedal drücken, langsam und gemächlich.
    Sie bog nach links ab in der Hoffnung, dass sie jetzt in derselben Richtung weiterfuhr, in der sie beide vor ihrem Halt unterwegs
     gewesen waren. Wehe, wenn nicht. Sie erinnerte sich noch, dass sie links auf die Tankstelle abgebogen waren. Also musstesie jetzt wieder links auf die Straße abbiegen, um in derselben Richtung weiterzufahren.
    »Grandpa? Richtig so?«, fragte sie. »Bin ich auf dem richtigen Kurs?«
    Ihr Großvater rührte sich nicht.
    April hielt die Augen auf die Straße gerichtet und streckte dabei den Arm aus. Zunächst zögerlich, weil sie befürchtete, dass
     sich damit womöglich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten, stieß sie ihren Großvater an.
    »Stimmt die Richtung?«, fragte sie erneut. Wieder keine Antwort.
    April umklammerte das Lenkrad noch fester und zwang sich, ein paar Mal tief durchzuatmen. Sie versuchte, ihrer eigenen Gewissheit
     nicht ins Auge zu sehen. Gott oder sonst wer hasste sie, und ihr Leben ging den Bach runter. Ihr Großvater war tot – tot!
     –, und sie hatte keinen blassen Schimmer, was sie jetzt machen sollte. Sie steckte hier in der hintersten Provinz und war
     von lauter Perversen umgeben. Ihr Traum, Sängerin zu werden, nach San Francisco zu gehen, aus Woodlake, Ohio zu fliehen …
     alles futsch. Wie hatte sie überhaupt nur auf so eine Schnapsidee kommen können?
    April versuchte sich darauf zu konzentrieren, dass sie links von den weißen Mittellinien blieb, versuchte an nichts anderes
     zu denken als an die weißen Mittellinien. Sie hatte den Tank voll mit Benzin. Irgendwo würde sie schon landen, bevor ihr der
     Sprit ausging. Aber was dann?
    Vielleicht sollte sie wieder laut die weißen Mittellinien mitzählen wie früher als Kind, wenn sie mit ihren Eltern unterwegs
     gewesen war. Sie hatte genau gewusst, dass es ihre Eltern und besonders ihren Vater an den Rand des Wahnsinns trieb. Aus dem
     Augenwinkel sah sie beim Zählen, wie die beiden Blicketauschten und ihre Mutter ihrem Vater mit einer federnden Handbewegung signalisierte, er solle ruhig bleiben. Trotzdem bat
     er April ungefähr bei 50, nicht so laut zu zählen, das störe ihre Mutter und ihn beim Reden. Als ob sie das je gemacht hätten.
     Bei 150 »schlug er vor«, dass sie leise weiterzählte, aber April protestierte, dass sie dann aus der Reihe käme. Grummelnd
     ließ ihr Vater sie noch eine Weile gewähren, aber weiter als bis 223 kam sie nie. Spätestens dann befahl er ihr, sich ordentlich
     hinzusetzen und still zu sein, damit andere Leute die Fahrt ebenfalls genießen konnten.
    Im Moment konnte April überhaupt nicht zählen. Sie brachte alle Zahlen durcheinander. Um die Tränen zurückzudrängen, biss
     sie sich auf die Lippe. Sie konnte doch jetzt nicht anhalten und flennen wie ein kleines Kind. Das hier war nicht mehr die
     Rückbank im Wagen ihrer Eltern. Sie musste sich selbst kümmern, sie musste die Sache
regeln.
April versuchte sich einen Plan zurechtzulegen. Aber was sollte sie machen? Sie wusste nicht, wo sie steckten oder wo ein
     Krankenhaus war – gar nichts! Und dass sie nicht umdrehen und an der Tankstelle um Hilfe bitten konnte, war ja wohl sonnenklar.
    Allein der Gedanke an die Tankstelle sorgte dafür, dass sie fast von der Straße abkam.
    Und dann, ganz plötzlich, setzte ihr Großvater sich auf. Er spähte nach vorn, als sei er auf der Suche nach einem Orientierungspunkt.
     Dann schaute er zu April herüber.
    »Hast du das gesehen? Hast du gesehen, wie der den Ball weggehauen hat?«, fragte er. Er lächelte und hatte die Augen erstaunt
     aufgerissen. »Vielleicht ist er ja doch kein Homo.« Ihr Großvater lehnte sich zurück und blickte unverwandt nach vorn, seine
     Augen waren auf etwas weit Entferntes gerichtet. »War das nicht toll, Clare?«
    Ein paar Minuten später hörte sie ihn tief atmen und wusste, dass er wieder eingeschlafen war. War er überhaupt wach gewesen?
     Sie konzentrierte sich weiter auf die Straße, die sich bis ins

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