Die fernen Tage der Liebe
Email-Programm noch an war.
Mary zögerte nicht, und schon wenige Minuten später schrie sie zu April hinunter, sie solle sofort hochkommen. Als April ins
Zimmer kam, zeigte Marcy auf den Computer und erklärte ihr, sie habe den Ordner ›Gesendete Objekte‹ geöffnet und mehrere Mails
gelesen. Und über eine habe sie mit April zu reden, nämlich die an einen Jungen namens Keith Spinelli. Die komme ihr doch
ein bisschen zu keck vor, ein bisschen zu leicht zu haben – ein bisschen zu nuttig, zum Donnerwetter.
Jetzt stand Marcy wieder vor dem Computer und ließ die Schultern hängen. Sie erinnerte sich wieder, wie entsetzt April die
Augen aufgerissen hatte, den Kopf zornesrot. Für einen Augenblick war ihr glatt die Luft weggeblieben.
Wie konntest du nur? Reicht es noch nicht, dass du mich die ganze Zeit herumschikanierst? Musst du auch noch in meinen
persönlichen Angelegenheiten schnüffeln und meine Privatsphäre verletzen?
April hatte genau die richtigen Worte gewählt, um in Marcy eine Lawine aus Schuld und Misstrauen loszutreten. Marcy hatte
nur einmal zugeschlagen.
Ich bin deine Mutter! Ich habe das Recht dazu. Ich brauche mich dafür nicht zu rechtfertigen.
Mit diesen Worten hatte Marcy sich umgedreht und das Zimmer verlassen. April hatte mit voller Wucht die Tür hinter ihr zugeschlagen
und einen derart ohrenbetäubenden Knall zustande gebracht, dass Marcy jetzt noch die Ohren klingelten. Im nächsten Moment
hatte sie das Klicken des Türschlosses gehört, und auch dieses Klicken hörte sie jetzt noch, Es war, als hätte ihr jemand
ins Auge gespuckt.
Marcy hatte versucht, sich zu beruhigen, und war zu dem Schluss gekommen, dass es wohl am besten war, wenn sie erst einmal
das Feld räumte. So etwas brauchte seine Zeit. April musste erst wieder erkennen, dass sie sich, wenn es um ihr Glück und
Wohlergehen ging, auf ihre Mutter hundertprozentig verlassen konnte.
Stolz auf ihr besonnenes Verhalten und sicher, dass sie gerade erheblich einsichtiger, reifer und schlichtweg mit mehr gesundem
Menschenverstand reagierte, als es die meisten Mütter in einer vergleichbaren Situation getan hätten, war Marcy nach unten
gegangen, hatte den Staubsauger aus dem Schrank gezerrt und sich über den Teppichboden im Familienraum hergemacht, den sie
eigentlich schon am Tag zuvor gesaugt hatte. Während sie das Ding hin und her riss, meinte sie alle paar Augenblicke, ein
Geräusch zu hören. Jedes Mal schaltete sie den Staubsauger aus in der Erwartung, April vor sich zu sehen, mit rotgeweinten
Augen, schniefend und um Entschuldigung bittend. Aber nein,das Geräusch kam wohl vom Staubsauger, obwohl es ihr noch nie aufgefallen war. Vielleicht ging er gerade kaputt – noch etwas,
worum sie sich dann kümmern musste. Als sie den Teppichboden zweimal abgesaugt hatte, sortierte sie die Wäsche. Jemand, der
von draußen hineinsah, hätte sie angesichts ihrer emsigen Geschäftigkeit womöglich für die Putzfrau gehalten, die unbedingt
schnell fertig werden wollte. Während sie T-Shirts, Unterwäsche und dunkle Socken auf unterschiedliche Haufen warf, überlegte
Marcy, ob April wohl jemals würde ermessen können, auf welch banale Weise ihre Mutter ihr tagtäglich ihre bedingungslose Liebe
bewies. Sie war nicht wie andere Mütter. Sie war in keinem Country-Club – und hätte das auch gar nicht gewollt, selbst wenn
sie es sich hätte leisten können. Da saßen die anderen Mütter herum und tratschten und tranken, anstatt sich ihrer Familie
zu widmen und sich, verflucht noch mal, anständig um sie zu kümmern! Marcy dagegen faulenzte nicht, sie arbeitete. Stets suchte
sie nach Möglichkeiten, Geld für sich und für April zu verdienen, nach besseren Möglichkeiten, ein Auskommen zu haben und
ein normales Leben führen zu können. Was hatte sie sich denn eigentlich zuschulden kommen lassen? Dass sie mit gutem Beispiel
voranging? Marcy haute den Deckel der Waschmaschine zu und brachte eine Füllung Weißes ans Laufen.
Waren ihr eigentlich selbst je all die Dinge bewusst geworden, die ihre eigene Mutter für sie getan hatte? Hatte sie überhaupt
schon einmal darüber nachgedacht? Während die Waschmaschine ächzte und sirrte, wurde Marcy plötzlich klar, dass der Tod ihrer
Mutter alle Erinnerung an
die
Mutter ausgelöscht hatte, die einfach mütterliche Dinge tat. Marcy hatte alles über ihre Mutter vergessen, was vor den Besuchen
im Krankenhaus lag, dem stundenlangen Schlafen
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