Die fernen Tage der Liebe
am helllichten Tag, bevor dann schließlich das Krankenbett und die anderen
Gerätschaften ins Hauskamen. Und was wusste sie noch aus der Zeit davor? Nur eine Erinnerung war noch da. Ihre Mutter war ins Fernsehzimmer gekommen
und hatte sich über Marcys Schnürsenkel gebeugt, während Marcy selbst wie ein Wasserfall von irgendeiner Fernsehsendung plapperte.
Dann hatte sie auf den Kopf ihrer Mutter hinabgeblickt, und als sie sich ein wenig zurücklehnte, sah sie das Gesicht ihrer
Mutter ganz verquollen und die Augen rot.
»Weinst du, Mommy?«
Ihre Mutter hatte nur weiter Marcys Schnürsenkel zugebunden.
»Geh draußen spielen, Schatz«, hatte sie gesagt. »Bleib im Garten.«
Das war alles. Das war Marcys lebhafteste Erinnerung an einen Moment mit ihrer Mutter, bevor die krank geworden war. Vielleicht
sorgte ihre Mutter, wo immer sie jetzt auch sein mochte, in welchem Himmelreich, ja inzwischen selbst dafür, dass Marcy nichts
anderes mehr einfiel. Vielleicht ermahnte ihre Mutter sie immer noch, draußen im Garten zu bleiben.
Für den Abend hatte Marcy Kalbskoteletts eingekauft, zufällig Aprils Lieblingsgericht. Aber nach diesem ganzen Ärger sollte
sie vielleicht besser nur eine Tiefkühl-Lasagne auftauen. Nein. Schließlich hatte sie vorher extra noch einen Umweg gemacht,
nur um frisches Kalbfleisch zu kaufen. Also panierte sie die Koteletts und warf sie in die Pfanne, dann machte sie einen Salat.
Wie viele Mütter machten sich wohl die Mühe, extra noch Salat zu richten?
Normalerweise lockte der Geruch von Kalbfleisch April immer sofort in die Küche, um herauszufinden, wann es Essen gab. Aber
Marcy war nicht besonders überrascht, dass sie diesmal nicht auftauchte. Sollte sie also zu April hochrufen, dass sie sich
die Hände fürs Abendessen waschen solle, so als sei überhauptnichts geschehen? Von wegen! Jetzt war April am Zug. Sie wusste, dass es Essen gab. Wenn sie Hunger hatte, musste sie sich
schon herunterbequemen.
Marcy deckte den Tisch für zwei. Sie ließ das Kalbfleisch noch ein bisschen länger brutzeln als sonst und wartete auf April.
Schließlich nahm sie sich eins der Koteletts, legte das andere auf einen Teller und stellte es zum Warmhalten in den Ofen.
Sie gab etwas Sauce an den Salat und aß diesen zunächst. In der Küche war es still. Von oben war kein Mucks zu hören. Marcy
aß das Kalbfleisch und räumte die Küche auf. Als sie den Abwasch fertig hatte, war sie so wütend, dass sie das Kotelett aus
dem Ofen nahm und in den Müll warf.
Nach dem Abtrocknen schaltete sie die Nachrichten ein und setzte sich vor den Fernseher, über den April immer maulte, er sei
zu klein. Nach der Hälfte – sie hatte nichts mitbekommen – schaltete sie den Fernseher wieder aus. Sie belud die Waschmaschine
von neuem und faltete die Wäsche, die sie am Abend zuvor im Trockner gelassen hatte. Danach ging sie ins Arbeitszimmer und
sortierte die Rechnungen, entschied dann aber, sie ein andermal zu begleichen, und kehrte in die Küche zurück. Sie setzte
sich an den Tisch und blätterte eine Zeitschrift durch. Gegen zehn Uhr beschloss sie, nach oben zu gehen. Vor Aprils Tür blieb
sie stehen und lauschte. Dann klopfte sie.
»April, ich gehe jetzt ins Bett.« Das sonst übliche »Ich habe dich lieb« ließ sie weg.
Nichts.
»April?«
Eine weitere Minute verging. Marcy klopfte.
»Sag doch wenigstens was, damit ich weiß, dass dir nichts fehlt.«
Jetzt bollerte sie gegen die Tür.
Im nächsten Augenblick hörte sie April rufen: »Was?« Marcy schwante, dass April vermutlich mit den Stöpseln ihres iPod im
Ohr auf dem Bett lag und das Poster an der Decke anstarrte.
»Ich gehe ins Bett. Gute Nacht.«
Im Bett las Marcy noch eine Weile und wartete darauf, dass April kam und sich entschuldigte. Eine Stunde später machte sie
das Licht aus.
Am nächsten Morgen war sie im Maklerbüro mit dem Telefondienst dran. April ließ sich nicht blicken, bevor Marcy zur Arbeit
aufbrach. Als sie gegen Mittag nach Hause kam, sah sie auf dem Küchentisch den Zettel.
Die Nutte hier bin nicht ich
, stand darauf.
Noch bevor sie, den Zettel krampfhaft umklammert, nach oben rannte, wusste Marcy, dass April weg war. Viel hatte sie nicht
mitgenommen, die Kleiderhaufen in den Fächern und auf dem Schrankboden sahen mehr oder weniger aus wie vorher. Die gelbe Reisetasche
unter dem Bett war allerdings verschwunden.
Als April schließlich vom Haus ihres Alten aus anrief, hatte
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