Die fernen Tage der Liebe
Marcy den Zettel schon so oft gelesen, dass sie den Spießrutenlauf
von Empörung über Schuldgefühle bis zur Abscheu über Aprils Grausamkeit schon mehrere Male absolviert hatte.
Dabei waren sie und Hank so vorsichtig gewesen – übervorsichtig, wie Hank manchmal sagte. Vor dem Tag, an dem sie ihre Tochter
das erste Mal geschlagen hatte, waren sie nie gemeinsam bei ihr zu Hause gewesen, wenn April nicht auch da war – und zwar,
bevor Hank eintraf. Stattdessen machten sie es in Hanks Apartment, tagsüber, nachdem sie sich am Telefon verabredet hatten.
Manchmal auch abends, aber dann so früh, dass Marcy schon wieder zu Hause war, wenn April von einem Besuch bei einer Freundin
zurückkehrte. Einmal hatten sie sogar versucht, es auf einer einsamen Straße beim Stausee von Woodlake zu treiben,begleitet von ziemlich viel Gelächter und peinlichem Grunzen und Ächzen, während sie versuchten, eine passende Stellung zu
finden. Jawohl, es kam schon mal zu was, aber wegen all der Vorsichtsmaßnahmen, auf denen Marcy bestand, nicht besonders oft.
Was bildete sich April also eigentlich ein, solche abscheulichen, gemeinen Anspielungen zu machen? Wer gab ihr das Recht,
über andere ein Urteil zu fällen? Selbst wenn Hank und sie weniger diskret gewesen wären, selbst wenn sie es bei Festbeleuchtung
vor dem Panoramafenster auf der Couch getrieben hätten – welches Recht hatte denn diese kleine Göre, ihre Mutter eine Nutte
zu nennen, verdammt?
»Gib mir deinen Großvater«, hatte sie verlangt, als April sie abends endlich angerufen und ihr gesagt hatte, wo sie steckte.
Was sie endgültig aus der Haut hatte fahren lassen, war die Selbstgefälligkeit in seiner Stimme gewesen und dass ausgerechnet
er die Frechheit besessen hatte,
ihr
zu sagen, dass sich doch alle erst mal wieder beruhigen sollten. Wie konnte er es wagen, sich so über sie lustig zu machen,
nach allem, was sie sich von ihm und ihrer Tochter hatte bieten lassen müssen? »Behalt sie«, hatte sie gesagt und eingehängt.
Marcy war fest überzeugt, dass April von den Umständen bei ihrem Großvater schon bald so angewidert war, dass sie nach Hause
gekrochen kommen und versprechen würde, alles Erdenkliche zu tun, sogar von jetzt an die Klos zu putzen, wenn ihre Mutter
ihr nur vergab und sie wieder zu Hause aufnahm. Sollten die zwei doch ihr kleines Spielchen spielen.
Als dann aber zwei Tage später dieser lächerliche Brief kam, war sie Hals über Kopf zu Nick gerannt. Und der bestätigte, ja,
auch er habe diesen Brief bekommen, allerdings zusammen mit einer weiteren Nachricht über irgendeinen Aufgang, die Nummer10 und ein Datum: dem 17. Juni. Nick erklärte, er habe bereits eine Nachricht bei Mikes Frau hinterlassen, jetzt könnten sie
nur noch abwarten, bis ihr älterer Bruder geruhte zurückzurufen. »Wenigstens wissen wir, dass ihr nichts fehlt, Marcy.«
»Ach ja?«, hatte sie mit bereits wieder anschwellender Stimme gefragt. »Bis du dir da so sicher? Wärst du auch so verflucht
scharf darauf, einfach auf die nächste Nachricht zu warten, wenn es um deine eigene Tochter ginge? Und wieso hast du Mike
angerufen und nicht mich? Es ist
meine
Tochter, verdammt!«
Nick beruhigte sie weiter, dass alles wieder ins Lot kommen werde, dass sie sich keine Sorgen machen solle. Aber irgendjemand
musste schließlich für diesen ganzen Mist den Kopf hinhalten. Marcy platzte schier bei dem Gedanken, dass sie das alles allein
schultern sollte, einschließlich der eventuellen Schuldgefühle, weil sie womöglich durch ihr Verhalten dazu beigetragen haben
könnte, dass der Alte dieses bescheuerte Spielchen trieb.
Jetzt saß sie auf Aprils ungemachtem Bett und starrte zu dem abscheulichen Poster an der Decke hoch. Sie zog ihr Telefon hervor
und rief den einzigen Menschen an, von dem sie hoffen konnte, dass er ihr einen Teil ihrer Last abnahm.
»Das wäre alles nicht passiert, wenn du auf mich gehört hättest«, blaffte sie, sobald Nick abgenommen hatte.
Pause. Dann: »Wie bitte?«
»Ich hatte dir doch gesagt, wir müssen wegen ihm etwas unternehmen. Ich hatte dir gesagt, dass er anfängt zu spinnen, oder
etwa nicht?«
»Willst du etwa mir die Schuld für dieses Geschichte geben, Marcy?«
Ja, dachte sie. Ich gebe dir die Schuld dafür. Und Mike. Und dem Alten. Und dem verfluchten Patrick Shea.
»Marcy?«
Sie unterbrach einfach die Leitung.
Aber da Nick eben Nick war, rief er natürlich zurück und berichtete, er habe
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