Die Festung
lassen, daß
der Wali, falls Šehaga etwas zustoße – ganz gleich wie und warum –, alle
Schulden zugunsten einer Kirchenstiftung auf Šehagas Namen und zur
Unterstützung der Medresse und der Bibliothek begleichen würde.
Beide wüßten genau, was das bedeute,
also wünsche der Wali Šehaga ein ebenso langes Leben wie sich selbst und würde
alles tun, ihn vor Gefahren zu schützen. So seien die geliehenen Dukaten zu
einem wundertätigen Amulett geworden, das ihn vor Mißgeschick bewahrte.
»Und schützen diese Dukaten auch
dich?«
»Natürlich, und wie.«
»Dann seid ihr keine großen Helden.«
»Wer hat denn behauptet, daß wir
Helden sind? Wer fragt heutzutage nach Heldentum?«
Ich wollte von ihm dasselbe wissen
wie von Šehaga: wo Ramiz sei.
Er lachte.
»Nicht mehr in der Festung.«
»Da hast du mir viel gesagt.«
»Mehr brauchst du nicht.«
Als ich ging, spürte ich einen üblen
Nachgeschmack von Osmans Geschichte über den Haß. Wie war das Leben dieser
Menschen, ständiges Lauern ohne Atempause, Abwägen jedes Schrittes und jedes
Wortes, angestrengtes Nachdenken über die möglichen Schachzüge des Gegners –
was für eine Qual, was für ein Tagedieb-Dasein. Wie wenig Zeit und Möglichkeit
für normales menschliches Denken und Fühlen, für Sorge um irgend etwas, was
nicht man selbst und die eigene Bedrohung war. In unseren Augen waren sie
stark, kräftig, mächtig, aber wir wußten nichts von ihrer Bedrängnis, ihrer
Angst vor sich selbst und vor den anderen, den Größeren, Kleineren, Klügeren,
Niederträchtigeren, Geschickteren, vor einem Geheimnis, einem Schatten, vor der
Dunkelheit, vor dem Licht, vor einem falschen Schritt, einem aufrichtigen Wort,
vor allem, allem, allem.
War es dann ein Wunder, daß sie böse
waren?
Hätte ich auch zu diesen teuflischen
Tricks gegriffen, wenn ich durch ein Wunder ihren Weg gegangen wäre? Sicher.
Aber ich hätte nicht gewußt, welches Unglück mich betroffen hätte, denn auch
sie wußten nicht, daß man anders leben konnte.
Man konnte. Ohne Brot bisweilen,
aber ohne Haß, ohne Bangen, ohne Angst. Ich konnte mir den Luxus verrückter
Gedanken erlauben, grundloser Freude, starker Gefühle, verantwortungsloser
Worte. Immer hatte ich Zeit für mich, so wie ich war. Und ich bereitete mich,
wenn auch seit langem, auf ein menschenwürdiges Leben in Ruhe und Frieden vor.
Sie hatten ständig jenen anderen im
Sinn, den sie nicht liebten und der sie haßte, jenen Mächtigen, der ihnen, ob
sie ihn nun kannten oder nicht, ständig Fallen stellte. Und ständig waren sie
im Kriegszustand, nur der Tod konnte sie von ihren Qualen erlösen.
Ich aber hatte im Sinn die Frau, die
ich liebte (warum war sie zornig?), und im Herzen kindliche Freude über den
ersten Schnee. Ich schaute entzückt, als hätte ich so etwas nie gesehen, wie
er in dichten Flocken fiel und die Stadt in Weiß hüllte.
Bedeutungslose Gedanken, bedeutungslose Empfindungen,
aber wieviel reicher war ich als sie. Und sie kamen mir deshalb, schien mir, um
mich durch ihre Harmlosigkeit vor der Düsternis der anderen zu schützen.
Auf der Straße näherte sich Mahmut,
langsam schlappte er in seinen ausgetretenen Schuhen durch die nassen
Schneefetzen.
»Wohin willst du?«
»Nirgendshin. Ich gehe spazieren.
Siehst du, daß es geschneit hat?«
»Ich habe mit Osman über dich
gesprochen. Er sagt, es tut ihm leid. Das Haus ist so voll, daß er nicht weiß,
wo ihm der Kopf steht.«
Er freute sich, der Ärmste, trotz
allem!
»Wie wär's, wenn ich jetzt
hinginge?«
»Nein, es ist großes Gedränge. Ich
habe ihn auch nur flüchtig gesehen und nur das fragen können, was ich dir sage.«
»Dann morgen?«
»Das wird das beste sein.«
Mein Mahmut, auch morgen wirst du der da sein, auch morgen werden dich die
Knechte nicht einlassen. Aber du wirst wenigstens bis morgen mit der Hoffnung
leben. Obwohl du das nicht nötig hast. Wir sind nicht ihresgleichen, und was
mich angeht, so danke ich Gott dafür.
Und ich kehrte zu meinen frohen
Gedanken zurück, die Mahmut unterbrochen hatte.
Der erste Schnee, ein stilles
Gespräch, eine ausgelassene Kindheit, spinnwebfeines Glück, ein schöner Traum.
Ich würde Tijana ausführen, wir würden lange durch die weißen Straßen gehen,
ich würde ihr von meiner Kindheit erzählen, nein, ich würde ihr sagen, wie sehr
ich sie liebte und was für eine Freude mir das Leben war. Wir würden einfach
spazieren, uns einfach freuen, einfach lachen, einzig und allein, weil
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