Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Reaktion.
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Die Rückkehr der Sonne hatte das raue Klima in der Lagune in die Flucht geschlagen. Das Zusammentreffen eines außergewöhnlichen Hochwassers mit dem Schneefall war ein glücklicher Zufall gewesen, denn Calli, Fondamenta, Ufer und jeder begehbare, bis zum Vortag überschwemmte Boden blieben erst einmal sauber, als das Wasser sich zurückgezogen hatte. Noch widerstand der Schnee auf Dächern und Brückengeländern,Simsen und Bäumen, doch überall tropfte es, und kleine weiße Schollen glitten an den Flächen hinab.
Um der Bequemlichkeit des Dogen willen und auf Anraten des Prokurators Alvise Mocenigo war die Begegnung auf das Läuten zur Terz in der Sala dello Scudo, dem Vorzimmer der Dogengemächer, festgelegt worden. Schon ein paar Stunden vorher hatte Zaccaria, der Anführer der Palastwache, das gesamte Stockwerk von der Dienerschaft räumen lassen und seine Männer auf alle Türen verteilt.
Mocenigo hatte sich um den Rest gekümmert. Die großen Fensterfronten auf den Palasthof, ebenso die Glastüren zur Ostterrasse waren mit Gardinen aus heller Seide verhängt worden, um Licht, aber keine Blicke hereinzulassen. Von den Dogensesseln hatte man den prächtigsten transportablen ausgesucht und ihn direkt gegenüber den großen Landkarten aufgestellt. Um ein ständiges Kommen und Gehen der Diener zu vermeiden, hatte man sogar einen Tisch mit getrocknetem Fleisch, Torten, Gemüse und Obst gedeckt.
Als letzte umsichtige Maßnahme waren die Teilnehmer der Begegnung einer nach dem anderen von Mocenigo selbst ausgesucht worden, um Geheimhaltung zu wahren und Missstimmungen und Verdächtigungen zu vermeiden. Anwesend waren außer dem Dogen Loredan der Consigliere Paolo Tiepolo, das Haupt der Zehn Pietro Pizzamano, der Staatsinquisitor Nicolò da Ponte, der Capitano General da Mar Girolamo Zane, der Großkanzler Zuàn Francesco Ottobon und natürlich der älteste Sohn des Dogen, Alvise.
Die Verlesung des Sendschreibens von Passi durch Alvise dauerte in allgemeiner Stille schon seit einer halben Stunde an. Es ging um die Rolle von Josef Nassì, einem portugiesischen Juden, in Venedig besser bekannt als Giovanni Miches, bei der Vorbereitung der unmittelbar bevorstehenden türkischen Eroberung Zyperns, jener letzten venezianischen und christlichen Bastion im östlichen Mittelmeer. Pietro Loredan hatte mehrmals Blicke mit Alvise Mocenigo gewechselt, der eine militärische Allianz der christlichen Mächte gegen das osmanische Reich befürwortete. Zweifellos ließ die Explosion des Arsenale die Fackel des Krieges auflodern, schien sie doch mit der dahinterstehenden Absicht, die militärische Struktur für die Ausrüstung der venezianischen Kriegsflotte zu zerstören, Teil der Vorbereitungen für einen Angriff auf die Insel zu sein.
»Wann soll diese Eroberung nach Meinung von Signor Passi denn nun stattfinden?«, unterbrach der Doge, der eher zu einer Politik diplomatischer Verhandlungen mit dem Sultan neigte.
»Das kann David Passi nicht näher bestimmen«, antwortete Alvise, den Blick vom Pergament hebend, »doch er glaubt, es könnte im Sommer nächsten Jahres geschehen.«
»Welch ein Unsinn!«, stieß Zane hervor, ein Freund Loredans und Befürworter des diplomatischen Weges. »Zypern wird erst eingenommen, wenn Famagosta und Nikosia fallen! Wir haben den Architekten Savorgnan dort hingeschickt, in zwei Jahren wurden zweihunderttausend Dukaten für diese Festungen ausgegeben!«
»Wenn die Türken wollen, werden sie die beiden Festungen erobern, die Juden von Zypern helfen ihnen schon jetzt«, bemerkte Alvise Mocenigo lakonisch.
»Dieser Passi ist nur der letzte einer ganzen Reihe von Vorgängern«, ließ der Senator Nicolò da Ponte sich vernehmen, »unsere Archive sind voller Dokumente, die uns vor den Verschwörungen der Juden und den türkischen Angriffsplänen warnen. Ist es nicht so, Signor Cancelliere ?«, fragte er Ottobon.
»So ist es«, bestätigte der Großkanzler.
»Wenn ich recht verstehe, wird Nassì König der von den Türken eroberten Insel werden und seine Glaubensbrüder dort ansiedeln«, sagte Pietro Pizzamano.
»Unsinn!«, höhnte der Dogenberater Tiepolo. »Wie könnt Ihr annehmen, dass Selim seine Armeen in den Dienst der Juden stellen wird?«
»Und dann diese Geschichte von den türkischen Schiffen, die seelenruhig im Golf von Venedig kreuzen, wer hat ihm die nur erzählt?«, schaltete sich erneut Girolamo Zane ein und fuhr, an den Dogensohn gewandt, fort: »Capitano, Ihr seid
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