Die Feuer von Troia
Aufmerksamkeit auf sich lenken, indem sie zur Seite trat.
Khryse sagte: »Im Lager der Argiven herrscht reges Treiben. Worauf warten sie?«
»Vielleicht wollen sie meinen Vater noch weiter demütigen, so daß er schließlich vor aller Augen in der Hitze ohnmächtig wird«, murmelte Kassandra. »Khryse, verglichen mit Achilleus ist Agamemnon edel und freundlich.«
»Ich weiß nicht viel von ihm«, sagte Khryse, »aber genug, um nicht zu wünschen, daß das Schicksal Troias in seiner Hand liegt. Die Gesundheit und die Kraft des Königs sind die ganze Hoffnung, die uns noch für Troia bleibt.«
Und das ist wenig Hoffnung , dachte Kassandra. Aber sie schwieg, denn sie wollte mit niemandem über die Ängste um ihren Vater sprechen, und ganz bestimmt nicht mit einem Mann, dem sie zutiefst mißtraute.
»Seht doch«, rief Polyxena und hob kaum merklich den Arm. Weit draußen auf der Ebene bewegten sich Gestalten. Kassandra erkannte beim Näherkommen Achilleus; sein blondes Haar glänzte in der Sonne. Er ging an der Spitze einer kleinen Prozession. Ihm folgten acht seiner Soldaten mit einer Bahre, auf der ein Körper lag - es konnte nur Hektors Leichnam sein. Dahinter kamen ein halbes Dutzend achaischer Heerführer in voller Rüstung, aber ohne Waffen. Wenigstens einmal hat Achilleus Wort gehalten. Kassandra atmete auf. Erst jetzt wurde ihr klar, daß sie so lange nicht daran geglaubt hatte, bis sie Hektors Leiche mit eigenen Augen sah.
Der Zug war inzwischen so nahe, daß sie die Gesichter und sogar die Stickereien des Tuches sah, mit dem man Hektor bedeckt hatte. Achilleus verneigte sich vor Priamos: »Wie ich versprochen habe, König von Troia, bringe ich die Leiche deines Sohnes.«
»Das Lösegeld liegt bereit«, erwiderte Priamos, ging zur Bahre und schlug das schwere Tuch zurück, so daß man das Gesicht sah. »Zuerst will ich mich vergewissern, daß es wirklich der Leichnam meines Sohnes ist.«
Hekabe trat neben ihn, als er das Tuch völlig zurückzog. Penthesilea wich ihrer Schwester nicht von der Seite, um sie notfalls zu stützen. Kassandra machte sich darauf gefaßt, daß ihre Mutter in Klage- oder Wehgeschrei ausbrechen würde. Aber Hekabe nickte nur ernst, beugte sich vor und küßte die kalte weiße Stirn. Priamos sagte: »Ein Priester des Apollon, der in solchen Dingen bewandert ist, hat die Waage aufgestellt. Wenn du die Gewichte selbst überprüfen willst… «
»Nein, nein«, wehrte Achilleus mit grotesker Großzügigkeit ab. »lch verstehe sehr wenig von diesen Dingen, mein König.«
Khryse führte Achilleus zu der Waage und sagte: »Du hast nicht in deinem Interesse gehandelt, Prinz Achilleus, als du den Leichnam von Prinz Hektor so zugerichtet hast. In gutem Zustand hättest du mehr Gold dafür bekommen.« Der Scherz wirkte sehr grob und völlig unpassend. Kassandra sah, daß Khryses Hände zitterten und seine Pupillen geweitet waren, und sie vermutete, er hatte unverdünnten Wein getrunken oder ein Gemisch aus Wein und Mohn und war nicht mehr ganz Herr seiner Sinne.
Priamos wurde blaß und sagte gepreßt: »Fangen wir an.« Er winkte, und man legte Hektors Leiche auf die eine Waagschale. Die Diener der Priamos häuften Gold auf die andere - immer ein paar Stücke gleichzeitig. Achilleus beobachtete es und lächelte kaum merklich, als die Waagschale mit der Leiche zitterte und sich langsam vom Boden hob. Kassandra überlegte sich, ob die anderen Zeugen das Schauspiel ebenso grotesk fanden wie sie.
Die Waage vibrierte und schwankte plötzlich heftig, wodurch die Leiche zur Seite rutschte, aber nicht herunterfiel, Auf dem Hügel über Troia wehte ein Wind, aber hier unten im Schatten der Mauer stand die Luft quälend still - so still, daß es einem den Atem nahm. Plötzlich stellte Kassandra fest, daß sich eine tiefe Stille über die ganze Stadt gebreitet hatte; nicht einmal ein Vogel sang. Gehörte das zu der Warnung, die sie schon einmal erhalten hatte? Würde Poseidon zuschlagen? Soll er zuschlagen und dieser Schamlosigkeit ein Ende setzen, dieser Verhöhnung von Anstand und Ehre! Kassandra richtete den Blick auf eines der Seile. Das Seil zitterte, und ein paar goldene Schmuckstücke fielen auf die Erde. Oh, Poseidon, mehr kannst du für Hektor nicht tun?
Einer der Diener hob den Schmuck auf und legte ihn auf die Waagschale zurück. Er griff nach einer schweren goldenen Brustplatte, und die Schale mit dem Gold sank nach unten.
»Zuviel«, erklärte Priamos, ließ die Brustplatte wieder
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