Die Fieberkurve
diesem Dokument werde man den »Alten« schon zur Vernunft bringen.
Studer schwieg. Er dachte verschwommen an viele Dinge. An Marie, die nun reich sein würde, an ein Sprichwort, das von einem Esel handelte, der aufs Eis tanzen ging, weil es ihm zu wohl war – und er verglich sich mit diesem Esel; er dachte weiter an die Bankgeschichte, die ihm den Kragen gekostet hatte: wie schön wäre das, wenn er nun seine Revanche nehmen und dem Staat Bern ein Vermögen zuschanzen könnte... Dann würden die bösen Mäuler plötzlich verstummen, und seine Ernennung zum Polizeileutnant wäre sicher. Aber bis dahin floß noch viel Wasser d'Aare-n-ab. Es war keine einfache Sache...
Ein hartes Pochen an der Tür schreckte ihn aus seinem Grübeln. Der Polizeirekrut meldete sich zurück. Er war in Studers Wohnung gewesen, so berichtete er, und Frau Studer habe ihm gesagt, Pater Matthias sei schon um halb drei Uhr fortgegangen. Sein Fieberanfall sei vorbei gewesen.
Dies alles rapportierte der Polizeirekrut mit geschlossenen Absätzen, in tadelloser Achtungstellung, und die Mittelfinger seiner beiden Hände hatte er an die blauen Passepoils seiner Uniformhose gepreßt.
»Abtreten!« sagte Kommissär Gisler bloß. Aber Studer stand auf. An der Türe sagte er:
»Gisler, du bringst die Sache mit dem ›Alten‹ ins reine. Ich möcht' morgen früh mit ihm sprechen. Sag ihm das. Ich hab' heut noch viel zu tun. Und dann Gisler, schau, daß mir der Polizeihauptmann sein Bureau und sein Telephon um sechs Uhr überläßt. Ich werd' eine Stunde zu telephonieren haben. Du stehst ja ganz gut mit ihm.«
Dann fiel die Tür zu. Der Stadtkommissär betrachtete nachdenklich seine empfindlichen Füße. Er studierte, studierte... Es war das erstemal, daß der Wachtmeister ihn duzte, und Gisler überlegte sich, ob er diese Familiarität als Schmeichelei oder als Beleidigung werten solle. Er entschloß sich zu ersterem: das Duzen war sicher ein Zeichen der Anerkennung für sein diplomatisches Geschick; daß aber der Held des »Großen Falles« so brüderlich zu ihm gesprochen hatte, erfüllte Gislers Herz mit Stolz und verdrängte auf fünf Minuten den anderen Stolz, den Stolz auf die aristokratische Empfindlichkeit seiner Füße...
Kanalräumen
»Sicuro«, sagte Dr. Malapelle vom Gerichtsmedizinischen. »Barbitursäure. Kein Zweifel! Massive Dosis. Somnifen. Ja ja, ich glaube, obwohl das nicht genau festzustellen ist. Mir schien es, als rieche der Mageninhalt stark nach Anis. Und da ich kein barbitursäurehaltiges Schlafmittel mit Anisgeruch kenne – außer Somnifen –, so ist es erlaubt, den Schluß zu ziehen. Übrigens, die Frau hätte nicht mehr lange gelebt. Schwere Endocarditis – oder, wenn Ihr Laienverstand, Inspektor, dies besser begreift, das Herz der alten Dame war schwach, schwächer, am schwächsten. Eine Aufregung – e poi... ja... Ob sie es freiwillig geschluckt hat?... Vielleicht, wahrscheinlich. Selbstmord ist wirklich nicht ausgeschlossen. Aber Sie glauben an einen Mord? Romantiker! Wenn's Ihnen Freude macht!«
Da erzählte Studer von der Schnur und von den Spuren an der Kante des Schlüsselloches.
»Fantasmagoria!« meinte Dr. Malapelle ärgerlich. »Sie haben Einbildungskraft, und die Einbildungskraft geht mit Ihnen durch! Nehmen Sie sich zusammen!«
Da zog Studer die Fieberkurve aus der Tasche, das Testament hatte er dem Kommissär gegeben, und zeigte sie dem Arzte. Der runzelte die Stirn und sagte:
»Was ist das? Entweder stimmt die Diagnose nicht, oder... Das ist doch keine Malariakurve! Weder Tertiana noch... Und dann, vedi, ispettore! – entweder hat die Schwester mangelhaft gemessen, oder... Statt die Zehntelsgrade anzugeben, gibt sie überall nur die Viertel-, Halb- und Ganz-Grade an: Sehen Sie selbst: 36,75, 39,5, 38,0. Das gibt es nicht. Auch wenn man in Betracht zieht, daß diese Fieberkurve aus einem Kolonialspital stammt, das außerdem noch von französischen Ärzten betreut wurde... Immerhin... pure... Merkwürdig... singolare... Es gibt doch nicht mehr Arbeit, die Zehntelsgrade zu notieren...«
Dem Wachtmeister Studer stak ein verstohlenes Lächeln in den Mundwinkeln.
»Danke, dottore«, sagte er, »mille grazie... Darf ich noch die Leiche der Sophie Hornuss sehen?«
... Ein faltiges Gesicht – und es drückte Schrecken aus. Es war aufgedunsen... und neben dem linken Nasenflügel saß keine Warze...
Hotel zum Wilden Mann. Studer fragte den Portier, ob er Pater Matthias sprechen könne. Hochwürden sei
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