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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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ganzer Umgang mit Leonie Leapmann litt darunter, als würde sich, sobald sie etwas sagte, ein Geruch im Zimmer verbreiten, bei dem er sich die Nase zuhalten musste.
    »Ach bitte, nicht das schon wieder«, bat sie.
    Finkler drehte seine Nase in die Gegenrichtung.
    Leonie Leapmann kam immer gerade aus den besetzten Gebieten zurück oder war auf dem Weg dorthin, wo sie viele Freunde aller Glaubensrichtungen hatte, darunter auch Juden,
die sich ebenso schämten wie sie. Durch Leonie kam man dem Konflikt zum Greifen nah. Im Rund ihrer müden, rotlidrigen Augen spiegelte sich das Leid wie in einem Goldfischglas.
    Es war, als sähe man einen Film in 3-D.
    »Nicht was schon wieder, Leonie?«, verlangte Lonnie Eysenbach mit aggressiv gezügelter Höflichkeit zu wissen.
    Lonnie war Moderator von Fernsehk indersendungen und Verfasser von Schulgeografiebüchern, in denen Israel bekanntermaßen nicht vorkam. Er hatte ein Gesicht wie ein hungriges Pferd und gelbe Pferdezähne, was den Produzenten zunehmend Sorge bereitete. Die Kinder bekamen Angst vor Lonnie.
    Lonnie und Leonie, beide zänkisch und jähzornig, waren einmal ein Paar gewesen und brachten zu jedem Vereinstreffen die Glut schwelenden Ressentiments mit.
    »Ich habe Freunde dort draußen, Freunde auf beiden Seiten, die stehen in ihrer Verzweiflung kurz vor Mord oder Selbstmord«, sagte Leonie – was, in Finklers Augen, auch wenn er es nicht ansprechen wollte, fast einem Aufruf zur Gewalt gegen seine Person gleichkam –, »und wir sitzen hier und reden immer noch darüber, wer wir sind und wie wir uns nennen wollen.«
    »Entschuldigen Sie mal«, sagte Kugle, »aber ich bin mir nicht bewusst, dass ich zur Debatte gestellt hätte, wie wir uns nennen wollen. Ich bin Demokrat und beuge mich der Mehrheitsentscheidung. Nur Sam mit seinem ASCH …«
    »Von mir aus können wir uns die Reiter der verfickten Apokalypse nennen«, rief Leonie.
    »Reiter der verfickten Apokalypse ist gut«, erwiderte Lonnie. »Nur sollte es nicht Reiter und Reiterinnen heißen?«
    »Fick dich!«, antwortete ihm Leonie.
    Die Nase immer noch abgewandt, seufzte Finkler so laut, dass der Groucho Club fast in seinen Fundamenten erbebte. Was hatte es für einen Zweck, jedes Mal, wenn sie sich trafen, erneut über Grundsätzliches zu debattieren? Es schmerzte, mit Kugle in
irgendwas einer Meinung zu sein. Wenn laut Kugle der Tag auf die Nacht folgte, betete Finkler, dass die Nacht niemals enden möge. »In meiner jüdischen Scham beuge ich mich niemandem«, sagte er, »aber ist es nicht wichtiger, dass wir jetzt zu einer Entscheidung kommen?«
    Kugle stöhnte.
    »Haben Sie noch etwas zu sagen?«, fauchte Finkler ihn an.
    Kugle schüttelte den Kopf. »Habe mich nur geräuspert.«
    »Ach, um Gottes willen«, rief Leonie Leapmann.
    »Du glaubst nicht an Gott«, erinnerte sie Lonnie Eysenbach.
    »Vielleicht kann ich ja helfen.« Diese Worte kamen von Tamara Krausz, in der akademischen Welt eine der bekanntesten ASCHandjiddn, eine Frau, deren stille Autorität nicht nur in England Respekt heischte, sondern auch in Amerika, dem Nahen Osten, eigentlich überall, wo sich Antizionisten – Finkler würde nicht so weit gehen und Antisemiten sagen – versammelten.
    Selbst Finkler verblasste ein wenig in ihrer Gegenwart.
    »Sollten wir nicht zeigen«, fuhr sie fort – und dass sie fortfuhr, hatte stets außer Frage gestanden, denn wer hätte schon gewagt, ihr ins Wort zu fallen? –, »dass es etwas Wunderbares ist, Jude zu sein, und sehr Verschiedenes bedeutet und dass damit ebenso wenig der Zwang einhergeht, Israel gegen jegliche Kritik verteidigen zu müssen, wie der Zwang, in ständiger Angst zu leben? Schließlich sind wir kein Volk von Opfern. Wie der tapfere israelische Philosoph« – dies mit einem Kopfnicken in Finklers Richtung – »Avital Avi letztens in einer bewegenden Rede in Tel Aviv sagte, die zu hören ich auf dem Podium die Ehre hatte, sind wir es, die heute die Erinnerung an den Holocaust lebendig halten; wir sind es, die dort weitermachen, wo die Kapos aufgehört haben. Natürlich entehrt es die Toten, wenn man sie vergisst, doch gräbt man sie aus, um das Gemetzel zu rechtfertigen, entehrt man sie noch weit mehr.«

    Silberhell klang ihre Stimme und sehr beherrscht, was, wie Finkler fand, insbesondere einem Vorwurf an Leonie Leapmann mit ihrer torkelnden, taumelnden Diktion gleichkam. Selbst durch ihr Äußeres beschämte sie Leonie, die sich wie die Eingeborene eines Landes anzog, dem

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