Die Finsteren
Frustration. Sie starrte Clayton unverwandt an, die Augen flehentlich geweitet.
Einen flüchtigen Moment lang beschlichen ihn Zweifel. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass hier etwas anderes ablief. War Fiona in Wirklichkeit das Opfer, und die Jungen versuchten nur, sie zum Schweigen zu bringen? Jedenfalls wollte sie eindeutig, dass er das glaubte, denn ihre Augen und ihre Körpersprache bemühten sich, genau das zu vermitteln. Andererseits handelte es sich um dasselbe Mädchen, das aus reiner Gehässigkeit diesen Bullen dazu angestachelt hatte, ihn anzugreifen. Und Clayton besaß ein gutes Gespür dafür, was für eine Sorte Mensch Mark Bell tatsächlich war. Der Junge mochte verkorkst sein, aber er verfügte über einen ausgeprägten Sinn für Moral. Mit anderen Worten: Er war kein Drecksack.
Mark trank einen Schluck Heineken. »Nimm ihr den Knebel ruhig ab, wenn du willst. Allerdings wirst du bloß gequirlte Scheiße zu hören bekommen.«
»Da hast du wahrscheinlich recht.«
»Du hast neues Bier mitgebracht.«
Clayton grunzte. »Kann mich gar nicht daran erinnern, wann ich zuletzt rausgegangen und ohne Bier zurückgekommen bin. Nein, warte. 1998. Damals hab ich ein paar Wochen lang überlegt, ob ich ’nen Entzug machen soll.«
»Was ist damals passiert?«
»Freundin hat mich abserviert.«
Mark trank das Heineken leer und stellte es auf den Tisch. »Oh. Ja, Weiber können einen echt fertigmachen.«
Clayton lächelte wehmütig. »Treffender kann man es nicht ausdrücken.«
Jared rülpste. »Was ist in der Kassette?«
Unter dem linken Arm trug Clayton eine kleine Schließkassette. Sie wog nicht viel, weil sich kaum etwas darin befand. Ein Teil des Inhalts klapperte, wenn er sich bewegte. Er stellte die Kassette auf dem Tisch ab und beobachtete die Jungen einen Moment lang, während sich ihre Blicke darauf hefteten. Sogar Fiona reckte den Hals. In ihren Gesichtsausdrücken lag eine seltsame Ehrfurcht. Niemand von ihnen hatte eine Ahnung, was sich im Inneren befand, dennoch betrachteten sie das Ding wie ein heiliges Relikt. Clayton konnte ihnen daraus keinen Vorwurf machen. Sie waren in einer scheinbar aussichtslosen Situation gefangen und mussten sich einem uralten, mächtigen Feind stellen. Einem waschechten Handlanger der Kräfte der Finsternis. Einem verfluchten Dämon. Keinem Monster oder Schreckgespenst aus einem Märchen, sondern einer realen Kreatur. Unter solchen Umständen kam es ihm nur menschlich vor, auf einen wundersamen und magischen Ausweg zu hoffen.
Er trug die Bierkartons zum Kühlschrank und redete, während er seinen geschwundenen Alkoholvorrat aufstockte: »Bis zum heutigen Tag ist diese Kassette seit über zehn Jahren nicht mehr geöffnet worden. Seit der Woche, nachdem sich mein Alter eine Kanone an den Kopf gehalten und das verdammte Gehirn weggepustet hat, lagerte sie in einem Schließfach.«
Jared ergriff die Kassette und schüttelte sie, brachte den Inhalt erneut zum Rasseln. »Was ist da drin?«
Clayton schob Flaschen im Kühlschrank nach hinten, um Platz für weitere zu schaffen, während er den zweiten Karton aufriss. »Wie ich Mark unlängst erzählt habe, wusste mein Vater etwas über die Kreatur, die ihr Genies vor ein paar Wochen aus dem Keller befreit habt.«
Jared legte die Stirn in Falten. »Wie jetzt, hat er sie etwa dort eingesperrt?«
»Nein, das ist schon passiert, lange bevor er in die Sache reingezogen wurde. Und viel von dem, was er wusste, erfuhr er aus zweiter Hand. Deshalb glaubte ich auch immer, es wäre Blödsinn – alberne Geschichten, die er erzählte, wenn er betrunken war. Ich hätte es besser wissen müssen. Die Geschichten waren zu abgedreht, um seiner eigenen Fantasie entsprungen zu sein. Abgesehen von seinem geschäftlichen Ehrgeiz besaß er keine ausgeprägte Vorstellungskraft.«
Der zweite Karton leerte sich. Clayton riss die verleimten Laschen auf und faltete ihn zusammen. Er ließ das Papier in den Abfalleimer fallen und setzte sich so weit wie möglich von Fiona entfernt an den Tisch. Sie drehte den Kopf und funkelte ihn über den Tisch hinweg zornig an. »Mein Dad war eine Zeit lang ’ne große Nummer hier in der Gegend. Hat ’ne Menge Kohle verdient. Viel davon hat er mir hinterlassen. Ich könnt euch sagen, wie viel genau, aber das wäre mir peinlich. Also, jemand wie er, der mit dem örtlichen Machtgefüge auf Du und Du stand, konnte für den Fall, dass etwas Schlimmes passiert, etliche Gefälligkeiten abrufen. Tja ... es ist
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