Die Flamme von Pharos
Leben«, sagte du Gard leise. »Ich weiß es.«
Sarahs Blick verriet Überraschung. Einmal mehr kam sie sich durchschaut vor und hatte das Gefühl, ein offenes Buch zu sein, in dem der exzentrische Franzose nach Belieben lesen konnte.
War Maurice du Gard doch mehr als ein talentierter Aufschneider, der sich auf der Bühne ins rechte Licht zu setzen verstand? Es hatte den Anschein, und Sarah ertappte sich dabei, dass sie darüber nicht entsetzt oder erbost war, sondern auf seltsame Weise beruhigt.
»Danke, Maurice«, erwiderte sie.
8
P ERSÖNLICHES T AGEBUCH
S ARAH K INCAID
Sind wir auf der richtigen Spur?
Habe ich die richtigen Schlüsse gezogen?
Noch immer sind die Nachforschungen über den Verbleib meines Vaters ein Fischen im Trüben. Ich habe keine Ahnung, worauf ich mich eingelassen habe, aber ich beginne zu ahnen, dass sich hinter diesem Rätsel weit mehr verbirgt, als es zu Beginn den Anschein hatte.
Was hat es mit dem geheimnisvollen Würfel auf sich, dessentwegen Pierre Recassin getötet wurde? Sind jene, die ihn so grausam ermordeten, nun tatsächlich auch meinem Vater auf den Fersen? Oder vermuten sie längst, wo sich das Artefakt befindet, und haben sich schon an meine Fersen geheftet? Der Gedanke beunruhigt mich, zumal er mich vermuten lässt, dass ich in jener Nacht auf dem Montmartre doch nicht nur von den Schemen meiner Einbildung verfolgt wurde. Aber ich verdränge alle Bedenken, weil ich weiß, dass sie mir nicht helfen werden, meinen Vater zu finden.
Was ich davon halten soll, einen wahrsagenden Franzosen zum Beschützer zu haben, weiß ich noch immer nicht, aber je mehr Zeit ich mit Maurice du Gard verbringe, desto mehr erkenne ich, dass sich hinter seinem gekünstelten Gebaren und der Koketterie bezüglich seiner fragwürdigen Fähigkeiten ein äußerst kluger und empfindsamer Geist verbirgt. Ich beginne zu verstehen, weswegen Vater ihn zu seinen Freunden zählt, auch wenn ich nach wie vor nicht begreife, weshalb er mir nie von ihm erzählt hat.
Rätsel umgeben mich, Fragen, auf die ich keine Antwort kenne, und ich bin diesen Zustand leid. Ich hoffe, dass meine Recherchen in den Archiven des Louvre ein Ergebnis zeitigen werden, sodass ich nicht länger gezwungen bin zu warten. Denn zumindest in dieser Hinsicht hatte Francine Recassin recht. Warten zu müssen und zur Untätigkeit verdammt zu sein, macht mir tatsächlich Angst …
A RCHIV DES M USÉE DU L OUVRE , P ARIS
20. J UNI 1882
Die Luft im Büro des obersten Archivars war trocken und zum Schneiden dick. Nichts deutete darauf hin, dass draußen früher Morgen war, denn durch die zugezogenen Vorhänge der Fenster drang kaum Licht. Inmitten von mit Büchern und ledergebundenen Folianten angefüllter Regale stand ein wahres Ungetüm von einem Schreibtisch, auf dem sich ganze Stapel von Formularen und immer noch weitere Bücher türmten. Dazwischen hockte ein kahlköpfiger Mann, der Hemd und Weste trug und dessen Haut die Farbe und Beschaffenheit von angegrautem Papier angenommen zu haben schien. Im Licht einer Gaslampe ging er eine Liste mit Eintragungen durch, wobei er leise vor sich hin murmelte – fündig wurde er dabei jedoch nicht.
»Es tut mir leid«, erklärte er, hob seinen Blick und schaute die beiden Besucher über die Ränder seiner halbmondförmigen Brillengläser an. »In dem von Ihnen beschriebenen Zeitraum hat niemand, der auf den Namen Gardiner Kincaid hört, die Kartensammlung benutzt.«
»Sind Sie ganz sicher?«, fragte Sarah ungeduldig nach.
Die ganze Nacht über hatte sie kaum Schlaf gefunden. Immer wieder hatte sie an das denken müssen, was sie von Francine Recassin erfahren hatte, und je länger sie darüber nachgedacht hatte, desto überzeugter war sie davon gewesen, auf der richtigen Spur zu sein.
»Teuerste.« Der Archivar setzte eine säuerliche Miene auf. »Als oberstem Leiter dieser Abteilung obliegt es mir, jeden Zugriff auf das hier gesammelte Kartenmaterial peinlich genau zu dokumentieren – und ich versichere Ihnen: Wenn es auf dieser Liste nicht verzeichnet ist, dann ist Ihr Vater auch nicht hier gewesen.«
»Ich verstehe«, sagte Sarah und konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Die Steine des Mosaiks hatten gerade erst begonnen, sich zusammenzufügen – und nun stellte sich bereits heraus, dass ihre Annahmen falsch gewesen waren. Dabei war sie sich so sicher gewesen, dass Ihr Vater nicht nur des Kubus wegen nach Paris gekommen war …
»Hat Gardiner möglicherweise einen anderen
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