Die Flamme von Pharos
dafür nicht geeigneter gewesen?
Was hatte das nun wieder zu bedeuten?
Hatte der Mann, den sie mehr als alles andere auf dieser Welt liebte und dem sie stets bedingungslos vertraut hatte, sich von ihr abgewandt? Misstraute ihr Vater ihr? War das der Grund, weshalb er sie nach London geschickt hatte …?
»Ich bin sicher, Ihr Vater hatte gute Gründe dafür«, sagte du Gard leise, für den ihre Gedanken einmal mehr ein offenes Buch zu sein schienen, sehr zu Sarahs Verdruss.
»Natürlich hatte er seine Gründe«, erklärte sie gereizt. »Oder glauben Sie, ein königlicher Leibarzt würde ohne einen triftigen Grund die weite Reise von London nach Paris auf sich nehmen?«
»N-non«, stammelte du Gard, der mit einem solchen Ausbruch nicht gerechnet zu haben schien. »Wie auch immer – Sie kennen Ihren Vater besser als ich.«
»So ist es«, bestätigte Sarah – und wünschte sich von Herzen, sich ihrer Sache wirklich so sicher zu sein.
»Diese Archivnummern«, sagte sie und deutete auf die entsprechende Spalte der Liste, »was haben sie zu bedeuten?«
»Das sind die Karten, die von Dr. Laydon eingesehen wurden?«, erklärte der Archivar.
»Um was für Karten handelt es sich dabei?«
»Lassen Sie mich nachsehen.« Die Nummern beständig vor sich hinmurmelnd, wandte sich der Mann einem dicken, ledergebundenen Verzeichnis zu, das er aufschlug und nach den entsprechenden Ziffern durchforstete. »Hier«, erklärte er schließlich. »Bei den betreffenden Karten handelt es sich um Pläne aus Alexandria.«
»Alexandria«, echote Sarah ebenso ehrfürchtig wie überrascht, während sie aus dem Hintergrund ihres Bewusstseins jenes Wissen abrief, das sie sich in der Bibliothek von Kincaid Manor angeeignet hatte.
Von Alexander dem Großen im Jahr 331 vor Christus gegründet, sollte die nach ihm benannte Stadt die Kapitale seines Reiches werden – eine Vision, die allerdings niemals Wirklichkeit wurde. Denn mit dem frühen Tod Alexanders im Jahr 323 zerfiel sein Reich, und seine Generäle lieferten sich blutige Kriege um die Nachfolge. Aus diesen Auseinandersetzungen gingen die Diadochenreiche hervor, deren reichstes unbestritten das Ägypten der Ptolemäer war, mit Alexandria als Hauptstadt. Über Jahrhunderte hinweg galt die Stadt als Zentrum des Handels und der Kultur, das in der antiken Welt seinesgleichen suchte, bis in die Zeit des Römischen Reiches Bestand hatte und mit dem großen Leuchtturm von Pharos eines der sieben Weltwunder sein Eigen nannte. Bis heute barg Alexandria unzählige Geheimnisse – und eben jene Geheimnisse gedachte Gardiner Kincaid offenbar zu lüften …
»Ist das die Antwort auf unsere Frage?«, erkundigte sich du Gard unbedarft. »Hält sich Ihr Vater in Alexandria auf?«
»Es sieht ganz danach aus.«
»Pourquoi? Was gibt es dort zu entdecken?«
Sarah sandte dem Franzosen einen amüsierten Blick zu. »Von Geschichte verstehen Sie nicht sehr viel, was?«
»Alors, ich …«
»Alexandria war nicht nur eines der Zentren der antiken Welt, es war auch ein Schmelztiegel der verschiedensten Kulturen und Einflüsse. Griechen, Ägypter, Perser, Juden – sie alle kamen nach Alexandrien, um dort Handel zu treiben und sich auszutauschen. Glaubt man den zeitgenössischen Quellen, so war es zugleich ein Hort der Kultur und des Lasters, unermesslicher Reichtümer und bedrückender Armut. Und über lange Zeit galt Alexandria als der fortschrittlichste Ort der Welt, an dem sich Moderne, Wissen und Kunst begegneten.«
»Klingt mir eher nach Paris«, erwiderte du Gard grinsend.
»Wenn Sie so wollen, war Alexanders Stadt das Paris der Antike«, räumte Sarah ein, »und wie immer, wenn solche Gegensätze an einem einzigen Ort zutage treten, sorgte das für …« Sie unterbrach sich, als ihr ein spontaner Gedanke kam. Rasch öffnete sie die leinene Tasche, die sie wie immer bei sich trug, und entnahm ihr den in Ölpapier eingeschlagenen Kubus. »Alexander«, flüsterte sie dabei, »natürlich, das ist die Lösung …«
»Was haben Sie?«, wollte du Gard wissen. »Ist Ihnen etwas aufgefallen?«
»In der Tat.« Sarah nickte. »Diese Buchstaben, die in den Würfel eingraviert sind, die ersten fünf des griechischen Alphabets …«
»Was ist mit ihnen?«
»Es ist das Alexandersiegel«, enthüllte Sarah, während sie das Artefakt prüfend in ihren Händen drehte. »Jene Initialien, die Alexander einst in die Grundmauern Alexandrias meißeln ließ. ›Alpha‹ steht für den Namen Alexander, das ›Beta‹
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