Die Flammen der Dunkelheit
Niemals würde sie vor den anderen eine Schwäche eingestehen. Ihren Blicken wich sie aus, betrachtete lieber die Schleier an den Wänden. Sie wehten in einem Wind, den man nicht spürte. Fast bekam man den Eindruck, ringsum ein Raunen und Wispern zu hören, als wären sie lebendige Wesen.
»Glaubst du wirklich, wir hätten es ohne dich nicht erfahren?« Eiskristalle wuchsen an den Schleiern empor und ließen die zarten Gebilde erstarren. Aithreo ballte die Fäuste, er musste seine Wut bezähmen, bevor jegliches Leben hier unten erfror. »Nein, Dídean, du warst dazu ausersehen, den Jungen zu beschützen, notfalls mit deinem eigenen Leben. Du wusstest, dass es gefährlich ist. Das war dir damals klar, als du die Aufgabe übernommen hast. Was ist geschehen, dass du plötzlich alles vergessen konntest? Deinen Auftrag, deinen Schützling, dein Volk, unsere Zukunft …«
Auch darauf antwortete Dídean nicht. Die Wahrheit war, sie vermochte es selbst nicht zu sagen. In jenem Augenblick, als sie aus dem Zimmer floh, da war es ihr richtig erschienen. Sogar unterwegs und bei der Ankunft hier in ihrer Zuflucht hatten sie keine Zweifel beschlichen. Aber jetzt sah alles auf einmal ganz anders aus. Es kam ihr so vor, als wäre sie aus einem bösen Traum erwacht. War das wirklich sie gewesen? Dieses Verhalten entsprach ihr gar nicht, stellte sie verwundert fest. Aithreos Frage war berechtigt. Ja, was war mit ihr geschehen?
»Ich hätte ihn nicht retten können!«, beharrte sie auf ihrem Standpunkt. »Selbst wir sind nicht in der Lage, allein gegen zwanzig erfahrene Kämpfer anzukommen, noch dazu wenn sie mit Schwertern bewaffnet sind!«
Aithreo sah sie einfach nur an. Auch sonst sagte niemand etwas, aber Dídean spürte deutlich die Feindseligkeit. Seltsamerweise fühlte sie sich dadurch eher herausgefordert als vernichtet.
»Es galt, blitzschnell eine Entscheidung zu treffen. Du hast selbst angeordnet, dass wir Jalluths Häschern unter keinen Umständen lebend in die Hände fallen dürfen. Ist es nicht so, Aithreo? Du nimmst dir heraus, über mich zu urteilen, ohne dabei gewesen zu sein!« Sie wirbelte herum, ihre Augen blitzten die anderen zornig an. Sie war immer lauter geworden, bis sie zuletzt beinahe schrie. Aber sie war noch nicht fertig. »Sagt mir, welche Gefahr größer war. Die, dass sie mich lebend fangen, oder die, dass Dallachar in ihre Hände fällt? Wie soll er unsere Existenz verraten? Er hat doch keine Ahnung davon! Und wenn er wirklich die prophezeite Rettung ist, dann wird ihm nichts geschehen, sonst wäre es keine Prophezeiung!«
»Muss ich dir wirklich sagen, dass ein großer Teil der Prophezeiungen bis heute rätselhaft ist?« Aithreos Stimme konnte kaum eisiger sein, doch Dídean wollte sich nicht beirren lassen.
»Wie sonst soll man die Aussage verstehen, dass die beiden die Sonne erwecken?«
Niemand antwortete ihr mehr, auch Aithreo nicht, dem unversehens eine Müdigkeit ins Gesicht geschrieben stand, die keiner je an ihm bemerkt hatte. Dies berührte Dídean mehr als sein Zorn, aber sie verbarg ihre Betroffenheit. Sie blieb immer noch äußerlich unbewegt, als einer nach dem anderen schweigend den Saal verließ, Aithreo schenkte ihr nicht einmal mehr einen Blick.
»Sie weigert sich, es zu begreifen!«, flüsterte jemand im Hinausgehen und dann war Dídean allein.
Eine Schneeeule flog lautlos übers Land. Den goldgelben Augen entging keine Bewegung unten auf dem Boden. Hätte ein Mensch sie gesehen, wäre er sehr verwundert gewesen, denn diese Vögel gab es hier schon lange nicht mehr. Ein Schatten glitt über einen jungen Hasen im Feld, der erschrocken davonsprang. Aber der Raubvogel stieß nicht auf ihn hinunter, sondern setzte seinen Flug fort, bis er die Kalksteinküste im Osten erreichte. Langsam kreiste er über einer Erhebung des weißen Gesteins, sank immer tiefer, und während er landete, veränderte er seine Gestalt, wurde größer, streckte sich, Federn wurden zu Haaren, Flügel zu Armen und Krallen zu Füßen.
Aithreo schüttelte sich, die lange Reise fühlte sich für seinen Körper ungewohnt an. Er verließ kaum noch das Versteck und kam vor allem selten an diesen Ort, es war zu gefährlich. Die Klippe war von weit her einzusehen und es gab nirgends Deckung. Doch jetzt hatte er nur diese Wahl. Er musste zu Maidin durchdringen. Es durfte nicht sein, dass sie ihr Volk in der größten Not alleine ließ. Bis heute schien es ihm unmöglich, das zu glauben, auch wenn eine winzige
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