Die Flirtfalle
der Feuilletonredaktion. Vor drei Tagen hatte ich meine fünf Kurzgeschichten in den Briefkasten der örtlichen Zeitung eingeworfen und war mit dem Gefühl nach Hause gefahren, dreihundert Euro reicher zu sein. Doch jetzt hatte ich ein ungutes Gefühl bei der Sache. Ich zerfetzte ungeduldig den Umschlag und da waren sie wieder - zerknittert und mit Kaffee bekleckst: meine fünf Kurzgeschichten. Das Begleitschreiben lautete:
Sehr geehrte Frau Klein,
haben Sie herzlichen Dank für das Einsenden ihrer Kurzgeschichten. Sie sind zwar sehr amüsant geschrieben (glauben Sie mir, wir haben hier in der Redaktion Tränen gelacht), dennoch wirken sie, im Gegenzug zu ihrer ersten Geschichte, vollkommen unglaubwürdig und realitätsfremd. Die Kunst des Schreibens besteht darin, eine Geschichte, die sich nur in der Fantasie des Autors abgespielt hat, so realitätsnah zu vermitteln, dass …
Befremdet blickte ich vom Brief auf. Ich war viel zu fassungslos, um wütend zu werden. In Wirklichkeit hatte ich jedem der fünf Urlaubstage eine Geschichte gewidmet, in der ich den Ablauf des jeweiligen Tages wiedergab. Ich hatte mich nur auf die Tatsachen beschränkt. Wahrheit pur sozusagen. Meine Bewerbung als Verlagssekretärin dagegen, in der es von ausgedachten Ereignissen nur so wimmelte, wurde als wahrhaftige und realitätsnahe Kurzgeschichte anerkannt. Es war ungerecht . Mir gingen dreihundert Euro durch die Lappen, nur weil die Redaktionsdame die reine Wahrheit als realitätsfremd empfand. Vor lauter Enttäuschung konnte ich nicht einmal die Kraft aufbringen, ins Schlafzimmer zu rennen und auf das Frustkissen einzuschlagen. Na schön, meine Damen! Wenn euch das wahre Leben witzig aber unglaubwürdig erscheint, meine Lügengeschichten dagegen umso realitätsnaher, dann bitte. Ihr könnt meine Lügengeschichten haben. Nichts leichter als das! Ich werde extra für euch eine lange Lügengeschichte schreiben. Am Liebsten hätte ich gleich damit losgelegt, doch die Blätter von Justins Malblock waren aufgebraucht und ich konnte nirgendwo Schreibpapier auftreiben. Ich bereute es, meinen Computer so leichtfertig zum Sperrmüll getragen zu haben. Er war zwar sehr alt, aber wenn ich es hartnäckig versuchte, sprang er schon mal an. Nun war es aber zu spät. Ich brauchte einen neuen Computer. Leider war ich knapp bei Kasse. Mum ging es finanziell besser, aber sie würde mir lieber einen Container Lebensmittel vor die Tür stellen, als mir etwas Geld zu geben. Die Lösung wäre Viktor. Nein, lieber nicht. Mutti würde das irgendwie spitz bekommen und ausflippen. Wenn es ganz schlimm kommt, würde sie tagelang auf mich einreden, von wegen Frau und Würde und stets bewahren und „Kind, du brauchst keinen Computer, sondern einen neuen Mann an deiner Seite!“ Nein, nein. Morgen noch werde ich einen Schreibblock besorgen und mir die Finger wund schreiben, in der Hoffnung, dass sich ein Käufer für mein Geschreibsel finden würde. Schließlich mussten es die Dichter von damals auch so machen und wenn sie ihr handgeschriebenes Manuskript doch abgelehnt bekamen, dann nur weil sie dieses drei Mal überarbeitet hatten, wonach die zahlreichen Tintenkleckse das ganze Zeug unentzifferbar machten.
Eine ganze Stunde noch, bis ich Justin vom Kindergarten abhole. Zeit genug also, um ein wenig nachzudenken. Ich malte mir gern aus, was wäre, wenn … Was wäre, wenn Mark und ich heiraten würden und wir fünf gemeinsame Kinder bekämen? Was wäre, wenn ich Lisa gestehen würde, ich hätte mich unsterblich in ihren Freund verliebt? Was mache ich, wenn ich Mark das Aus erkläre und eine Woche später von Lisa erfahre, dass sie und Mark sich getrennt hätten? Würde ich dann Mark um Vergebung bitten und einen Neuanfang mit ihm wagen? Was wäre, wenn mir Lisa das übel nähme? Bin ich bereit, für eine Beziehung mit Mark Lisas Freundschaft aufzugeben? Was wäre, wenn ich mich als Reinigungskraft bewerbe und sofort die Stelle bekomme? Was wäre, wenn ich alles, was ich besitze, verkaufe, mit Justin nach Spanien auswanderte und dort ein neues Leben beginne? Mutti würde uns ausfindig machen und zurück nach Deutschland holen. Nein. Wenn, dann müsste ich eine neue Identität annehmen und irgendwo inkognito untertauchen. Justin und ich würden ganzjährig die Sonne genießen und von unserer Wohnung aus auf das Meer blicken.
Ich war eingenickt. In meinem Traum stand ich barfuss an einer Haltestelle und wartete auf den Bus, doch er kam und kam nicht. Gerade
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