Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
hatte sie es nicht wahrhaben wollen, doch dann waren die Erinnerungen sowie die eindeutigen und ihr durchaus vertrauten Anzeichen immer stärker geworden. Mehrere Male in ihrem Leben war sie schon schwanger gewesen, die Kinder hatte sie von Fips oder einem der zahlreichen Männer empfangen, denen sie zu Diensten hatte sein müssen. Doch keine dieser vielen Früchte hatte sie ausgetragen. Manchmal war die Natur ihr zuvorgekommen, aber meistens hatte Marie die zweifelhafte Kunst von Engelmacherinnen in Anspruch nehmen müssen. Fips hatte sie dazu gezwungen.
Nun jedoch war es anders. Jetzt, da Marie wusste, dass erneut Leben in ihrem Bauch heranwuchs, würde nichts sie daran hindern, das Kind auszutragen: kein Mann, kein anstrengender Marsch, keine unzureichende Nahrung und auch keine bösen Seuchen. Dieses Kind würde gesund und lebendig das Licht der Welt erblicken. Das war Maries Wunsch, auch wenn der Vater sich äußerst merkwürdig betrug.
Kein Wort hatte er seit gestern mit ihr gesprochen, nicht einmal wärmen wollte er sie in der Nacht, als es ihr kalt wurde und sie sich an seinen warmen Rücken geschmiegt hatte. Marie war sich sicher, dass nun auch Konrad wusste, was der Grund für ihren sich ändernden Zustand war. Er wusste, dass sie nicht an der Pest, einem verdorbenen Magen oder einem Schwächeanfall litt– das verriet der verschämte Blick, den er ihr dann zuwarf, wenn er glaubte, sie bemerke es nicht. Doch meistens schaute er sie gar nicht an, sondern versuchte so weit wie möglich von ihr fortzukommen. So wie auch jetzt, wo er und die beiden anderen bereits eine Viertelmeile von Marie entfernt auf sie warteten.
Sollten sie ruhig warten. Sie konnte nicht mehr. Wieder war ihr übel, ein flaues Gefühl durchwaberte ihren leeren Magen und drückte sich bis in den Hals hinauf. Immer wieder musste sie würgen, und die ganze Welt um sie herum schien sich zu drehen. Marie setzte sich am Wegesrand nieder. Hier war alles voller großer Felsbrocken, die ausreichend Möglichkeit zur Rast boten. Und eine Rast hatte sie dringend nötig.
Sie blickte an sich herunter. Ihre Augen wanderten über ihre seit einigen Tagen schmerzenden Brüste hin zu ihrem Bauch, der flach unter dem fleckigen Mieder verborgen war. Noch drückte nichts, aber dennoch löste sie die Schnüre des Mieders ein wenig und streichelte dann sanft über die Stelle um ihren Nabel.
Ihre Gedanken waren bei Konrad, diesem vertrauten und zugleich so fremden Mann und Vater ihres ungeborenen Kindes. Von Anfang an glaubte sie auf besondere Weise mit diesem Menschen verbunden zu sein, und dennoch wusste sie so wenig von ihm. Er war ihr so ähnlich, und deshalb fürchtete sie sich. Sie fürchtete ebendas, was auch der arme Ulrich stets gefürchtet hatte, wenn es um seine Liebe zu ihr, zu Marie, ging. Marie war sich nicht sicher, ob es möglich sein könnte, einen Rastlosen zu bändigen. Und aus eigener Erfahrung wusste sie, dass allein der Versuch, dies zu tun, alles zerstören konnte. Sie fühlte, dass Konrad sich allein durch die Tatsache dieser ungewollten Schwangerschaft bedrängt sah, und sie verstand das, auch wenn es sie wütend machte. Ja, es machte sie schrecklich wütend, denn sein Verhalten verriet ihr, dass er sehr bald nicht bloß des Nachts von ihr abrücken und des Tags um viele Schritte vorauslaufen, sondern ganz und gar das Weite suchen würde. Da waren sie gleich– und diese verbindende Ähnlichkeit schmerzte. Schon damals, nach ihrer ersten Nacht unter der Weide auf dem Klostergelände, hatte diese Gewissheit schrecklich geschmerzt. Damals hatte Marie geweint, als sie dem treu auf sie wartenden Ulrich begegnet war. Es waren keine Tränen einer reuigen Sünderin gewesen, nein, es war vielmehr die Trauer über den Verlust des soeben gewonnenen und sogleich wieder verlorenen Glücks gewesen. Liebesschmerz– ein Gefühl, das sie nie zuvor in ihrem Leben kennengelernt hatte und das nun wieder zurückkehrte. Es war wieder präsent und verstärkte das Drücken und Ziehen in ihrem Magen nur noch mehr. Da stand er, ganz klein und weit von ihr entfernt, er wartete auf sie. Noch wartete er. Aber wie lange? Wann würde der Tag kommen, an dem nur mehr Regino und Johann die Wegbegleiter der Frau wären, deren Bauch bald von Woche zu Woche runder werden würde?
Ein melodisches, dunkles Singen riss Marie aus diesen Gedanken. Auf dem schmalen, holprigen Weg, der an einem grünen, aber recht steilen Berghang entlangführte, näherte sich ein Karren.
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