Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
einen ehrenhaften, verdienstreichen Diener hoher Herren. Doch offenbar ist er dem Wahnsinn verfallen. Ich werde umgehend Meldung über dieses unglaublich fragwürdige Verhalten machen müssen. So angesehen er einst auch war, vergangene Ehre darf kein Freibrief für gegenwärtiges Fehlbetragen sein. «
Und mit diesen wieder einmal erflunkerten Worten hoffte er, die jungen Leute beruhigt zu haben, welche ihm tatsächlich stillschweigend weiter durch die Nacht folgten, während sich auch Vitus Fips auf den Weg machte.
Jedoch in die entgegengesetzte Richtung.
VI
B rotsuppe, Ulrich. Die magst du doch. Iss, du musst wieder zu Kräften kommen, bald ist Zeit zum Pflügen. «
Marie war zuversichtlich, dass Ulrich sich langsam von Trauer und Krankheit erholte. Zuweilen gewann er sogar seine alte Redseligkeit zurück. An dem Tag, an dem der Spielmann in ihrem Ort erschienen war, hatte Ulrich des Abends das erste Mal wieder einen seiner wissensreichen Vorträge gehalten, und Marie hatte ihm gern gelauscht. Er hatte erzählt, dass es vor vielen, vielen Jahren, noch zur Zeit seiner Urväter, vorgekommen sei, dass ein wirklicher Lokator, entsandt von einem hohen Herren namens Adolf von Schauenburg, durch diese Lande gestreift war, um Bauern mit sich in den Nordosten zu führen. Diese Sage habe sich über mehrere Generationen hindurch in der Familie der Filzhuts gehalten, denn damals seien gleich drei Söhne ausgezogen, und nur einer war im Dorfe zurückgeblieben, um den Hof des Vaters zu übernehmen. Ganz in den Norden, bis ans Meer wollten sie. Es hieß, dort werde eine große Stadt gebaut, Lübeck mit Namen, hinter deren schützenden Mauern die neuen Bürger schnell zu Wohlstand gelangen sollten. Dem Meer, so wurde weiter verheißen, werde man fruchtbares Land abgewinnen, denn nicht nur die Hilfe fleißiger Westfalen, sondern auch die Kenntnisse erfahrener holländischer Siedler wurden erwartet, um das Wasser mit viel Kraft und Geschick erfolgreich zu verdrängen.
So hatte Ulrich berichtet, und er hatte auch berichtet, dass darüber nun lange Zeit vergangen sei und die Länder längst zur Gänze besiedelt wären. Man war alsbald sogar noch weiter in den Osten gezogen, habe Kreuzzüge gegen die heidnischen Wenden geführt und sich mit den slawischen Fürsten verbrüdert, die gern die Hilfe aus dem Westen kommender Bauern bei der Urbarmachung ihrer zu großen Teilen unerschlossenen Besitzungen in Anspruch nahmen. Aber auch das sei längst Vergangenheit. Nicht einmal die Ritter des Deutschen Ordens, ebenfalls im Osten ansässig, riefen noch nach deutschen Bauern. Es gäbe, so schloss Ulrich ernüchtert, überall Menschen genug. In Ost und West, in Nord und Süd. Keiner verlange nach fremden Mäulern, die er durch die Früchte seiner Heimat zu stopfen trachte. Und darum sei dieser Possenreißer, dieser vollmundige Lügenbold, nichts weiter als ein Scharlatan gewesen, der den Frauen an die Wäsche und den Männern an den Geldbeutel wollte.
Marie hatte diesem Urteil schmunzelnd gelauscht, sich gefreut, dass Ulrich wieder der Alte war, aber zu diesem Zeitpunkt noch insgeheim gehofft, ihn von seiner Meinung über den Lokator und dessen Vorhaben abbringen zu können. Es bedurfte nur noch des richtigen Augenblicks, so hatte sie sich vorgenommen, und sie würde Ulrich vorsichtig den Vorschlag unterbreiten, sich gemeinsam dem Mann anzuschließen, über den er soeben noch geschimpft hatte. Denn Marie war zuversichtlich geblieben, dass Regino von Bunseborn alsbald zurückkehren würde. Dann, wenn der Ärger über sein plötzliches Erscheinen und verwegenes Ansinnen verraucht war.
Es hatte nämlich gehörigen Ärger gegeben. Der Meier war ins Dorf geritten und hatte sich die Bauern zur Brust genommen. Zumindest hatte er es versucht, denn um sich die notwendige Autorität zu verschaffen, fehlte dem Meier die Stimme und auch die Erscheinung. Dennoch war es ihm gelungen, ihnen allen zu verstehen zu geben, dass sie sich nicht erdreisten sollten, auf das ketzerische Geschwätz eines fahrenden Bauernfängers zu hören, der hier im Umkreis sein Unwesen zu treiben schien. Auch der Pfarrer hatte eine entsprechende Predigt gehalten und einige Burschen sogar namentlich zur Rede gestellt, nämlich eben die, von denen zu erwarten stand, dass sie sich von dem Auftritt des Pfeifenspielers nachhaltig beeindrucken lassen könnten.
Zwei Tage lang war Ruhe gewesen, dann war der Pfeifer tatsächlich wieder aufgetaucht: Regino von Bunseborn, dreist wie er
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