Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
zog. Er wusste, dass man Marie vertrauen konnte und dass sie nach einigen Stunden wieder zurückkehren würde.
Denn so war es bislang immer gewesen.
Weit war sie gelaufen.
Sie hatte den Weg durch das Dorf gemieden, war vielmehr in Richtung der Burg gestapft, hatte sich von dort von den wachhabenden Männern vertreiben lassen und schließlich einen engen Pfad in Richtung des Klosters eingeschlagen. In dessen Nähe hatte sie lange unter dem Schutze eines mit Efeu vollkommen eingehüllten toten Baumes am Rande eines Sumpfes gesessen und darüber nachgedacht, ob sie den nun begonnenen Weg einfach fortsetzen und, ohne Abschied zu nehmen, sich davonschleichen und den Pfeifer mit seinen Gefolgsleuten suchen sollte. Der Gedanke war verlockend.
Vollkommen durchnässt, mit strähnigem, tropfendem Haar, hockte Marie bis tief in die Nacht da, den Blick immerzu auf die Lichter hinter den Fenstern des Klosters geheftet. Dorthin, wo die Mönche hinter dem Schutze dicker Mauern ein solch sicheres, gefahrenloses Leben führen durften. Marie beneidete sie in diesem Moment.
Versorgt waren sie. Hatten täglich reichlich zu essen und zu trinken. Sie mussten sich nicht bekümmern um das Wohl ihrer Liebsten, allein mit Gebet und frommen Worten waren sie bei ihnen. Auch wenn die Nächte kurz und vom Gottesdienst unterbrochen waren, so verfügte ein jeder über ein warmes, weiches Bett, von dem er sicher sein konnte, dass es auch am folgenden Abend auf ihn wartete. Und war einmal einer krank, so gab es einen heilkundigen Bruder, der mit Säften, Tinkturen und Kräutern aus dem Klostergarten rasch Linderung verschaffen konnte. Sogar ein Bad stand bereit. Doch das Schönste an dem Leben hinter Klostermauern, so zumindest stellte Marie es sich vor, war, dass es ebendiese Mauer gab, diese Grenze, welche es einem jeden ungebetenen Gast unmöglich machte, die Ruhe und Andacht der Insassen zu stören.
» Schade « , murmelte sie vor sich hin. Ja, schade, dass es einer Frau wie ihr, einer Frau mit solch zwielichtiger Vergangenheit und zudem von schlechtem Geburtsstand, niemals möglich sein würde, das Leben einer Klosterfrau zu führen. Andererseits– so musste sie sich eingestehen–, wenn sie sich sogar schon als Weib eines Bauern, das sich frei auf Feldern und in Wäldern bewegen durfte, beengt fühlte, wie sehr würden sie nach nur kurzer Zeit die dicken Mauern eines Klosters erdrücken? Marie war nun einmal ein Gewächs der Wege, Pfade und Gassen des Reiches, sie war eine Streunerin, eine widerwillige zwar, doch es lag ihr unweigerlich im Blut, es war ein Teil von ihr, den man nur auf kurze Dauer zur Ruhe bringen konnte.
Diesen Fluch hatte er ihr auferlegt, als sie in seiner zweifelhaften Obhut groß geworden war. Ja, die mit ihm verbrachte Zeit beherrschte sie noch immer, ließ sie rastlos sein, ließ sie ständig nervös mit den Füßen wippen, ließ ihren Blick stets in die Ferne schweifen, ließ sie hellhörig werden bei einem jeden Paukenschlag oder Pfeifenton, den ein fahrender Gaukler oder Händler von sich gab. Er hatte ihr diese Unruhe eingepflanzt wie ein übles Laster, das Marie nun eineinhalb Jahre lang mühsam, aber erfolgreich bekämpft hatte. Doch auszulöschen war es nicht, würde es niemals sein. Und nun, nach dem Tode der lieben Kinder, nach dem schrecklichen Winter, nach den bedrohlichen Albträumen von seiner Rückkehr und nach dem verheißungsvollen Auftreten dieses Regino von Bunseborn war es ihr ganz und gar nicht mehr möglich, ihre Unrast zu unterdrücken. Nichts hielt sie mehr an diesem Zufluchtsort. Nichts, außer dieser gute, sture Mann, der ihr ein treuer Freund geworden war.
Nur widerwillig raffte Marie sich schließlich auf und machte sich in tiefster Dunkelheit langsam auf den Weg zurück in die Hütte des Ulrich Filzhut.
» Vielen Dank, dass du mich aufnimmst, Bauer. Sieh meine Füße an! Man kann sie nur noch blutige Klumpen nennen. «
» Du musst weit gelaufen sein. «
» Das bin ich, wahrlich, das bin ich. «
» Was ist mit deinem Gesicht passiert? «
» Du meinst die Narben? Ein Zwischenfall in einem Wald. Im Lipperland, nicht weit von hier. Ich wurde im Schlaf überrascht. Es war ein Wunder, dass ich überlebte. «
» Ja, seit einigen Jahren treibt sich sehr viel Halunkenpack in dieser Gegend herum. Man möchte meinen, der Auswurf der ganzen Welt hat sich auf die Beine gemacht und zieht durch die Lande. «
» Da sprichst du wahr, Bauer. Das kann ich nur bestätigen. Überall kreucht und
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