Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
ließ es wie Entzücken klingen.
» Da sind wir, meine Guten. Die erste Etappe ist erreicht, wir können uns zur wohlverdienten Ruhe begeben. «
» W-w-w-was ist d-d-das? « , stotterte Wilhelm. Er war der Stärkste von allen, trug das meiste Gepäck und war dennoch schnell genug, um dem Leichtgewicht Regino auch nach vielen Meilen auf den Fersen zu bleiben. Er gesellte sich nun zu dem Lokator, welcher an einer dicken Buche lehnte und auf eine durchaus hübsche Auenlandschaft blickte. Nach und nach trafen auch die übrigen Reisenden ein.
» Mich dünkt, meine Freunde, wir haben den Garten Eden vor uns « , rief Regino nun aus, streckte beide Arme weit von sich und wies, sich im Halbkreis hin und her drehend, auf das vor ihnen liegende, in eine Au eingebettete Dorf.
» Sind wir etwa schon angekommen? « , fragte nun der rothaarige Knecht Otto hoffnungsvoll.
» Tölpel « , stieß ihn der Jüngste, Schmiedssohn Fritz, von hinten an und schlug Otto die uralte, schmutzige Mütze vom Kopf. » Hier werden wir nur schlafen. «
» Darf ich etwas einwenden? « , fragte Johann mit verschmitztem Gesicht den noch immer wie weggetreten über die Landschaft und die Häuser blickenden Regino.
» Sprich, Johann, sprich « , gab dieser zur Antwort.
» Mich meinerseits dünkt, Meister Regino, wir haben ein Geisterdorf vor uns. Da lebt keine Menschenseele mehr. «
Regino starrte eine Weile auf den Ort, dann fiel seine Kinnlade plötzlich nach unten, klappte im Nu aber wieder hoch und half dem großen Mund, sich zu einem breiten Grinsen zu verformen.
» Umso besser, meine Freunde, umso besser! «
Flink wie ein Vogel flog er regelrecht hinunter in die Au und rief seinen Leuten zu, sie sollten sich beeilen, ihm zu folgen.
Marie blieb jedoch noch eine Weile an der Buche stehen und schüttelte den Kopf über diesen offensichtlich planlosen Anführer. Für sie persönlich stellte sich die Frage nicht, ob es falsch oder richtig war, dem Pfeifer zu folgen. Für sie war alles besser, als ihren Weg allein zu gehen. Aber ob dieser verrückte Vogel tatsächlich halten konnte, was er den jungen, treuen Menschen versprochen hatte, das war mehr als nur zweifelhaft. Dennoch– besser den Tod auf der Wanderschaft zu finden, als ihn reglos im Dorf zu erwarten. Und nach den Fehden, Missernten, Seuchen und Hungersnöten der letzten Jahre stand diesen Burschen und Mädchen in ihrer Heimat gewiss keine bessere Zukunft bevor.
Langsam machte nun auch sie sich auf den Weg, um die vor ihr liegende Wüstung allein und in Ruhe in Augenschein zu nehmen.
Lange konnten die Menschen noch nicht fort sein, die einst dieses Dorf bewohnt hatten. Fasziniert streifte Marie über die verwachsenen Pfade zwischen den teils eingestürzten, teils überwucherten Zäunen der Höfe. Zwanzig hatte sie gezählt, eine beträchtliche Anzahl, wenn man bedachte, dass der Ort, in dem sie mit Ulrich Filzhut gelebt hatte, nicht mehr als ein Dutzend Höfe aufwies. Und erst die Kirche– ganz aus Stein war sie und stand noch immer trutzig und mächtig da. Anders als die Häuser war sie unbeschädigt, und das in ihr flackernde ewige Licht deutete darauf hin, dass ab und zu Gläubige ihren Weg hierher fanden. Unmittelbar neben dem unbeschädigten Gotteshaus tat sich ein mächtiger Spalt auf, der jedoch von Geröll und herabgestürztem Geäst so verstopft war, dass er nur mehr wenig angsteinflößend wirkte. Es musste sich in diesem Ort eine Katastrophe zugetragen haben, das war sicher. Denn obgleich noch viele der Hütten und Häuser standen, so war doch ein erheblicher Teil zerstört, regelrecht auseinandergerissen. Und zwar handelte es sich dabei um all diejenigen, die unweit eines harmlos erscheinenden, winzigen Bächleins errichtet worden waren, welches sich friedlich plätschernd durch die grüne Au schlängelte. Eine Au, die nur auf den ersten Blick liebreizend erschien, denn vom Ort aus betrachtet, lag auch dieses Gebiet mehr als nur wüst. Überall häuften sich angeschwemmter Schutt und riesige Gesteinsbrocken, ganze Kiesberge hatten sich aufgetürmt und bedeckten die Flächen, auf denen sich noch vor wenigen Jahren gewiss fruchtbare Äcker befunden hatten. Marie schauderte bei dem Gedanken an die furchtbaren Tage, welche die Menschen hier erlebt haben mussten, und die ihr ganzes Leben so sehr verändert hatten, dass sie sich gezwungen sahen, ihre Heimat zu verlassen.
Doch sonderbarerweise fühlte Marie sich durchaus auch wohl an diesem wüsten Ort, sie verspürte eine
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