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Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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eigentümliche Verbundenheit mit den Leuten, die einst von hier fortgezogen waren. Der Gedanke, dass es noch viele andere gab, die in diesen Zeiten zur Rastlosigkeit verdammt waren, ließ sie ihr eigenes Schicksal nicht mehr so eigenartig und so einsam erscheinen. Sie dachte an Ulrich. Auch er hätte gehen können, so wie die Bewohner dieses Ortes es einst taten, doch er hatte sich geweigert. Er hatte aus freien Stücken entschieden, sich zu weigern. Es war nicht Maries Schuld, dass er nun allein war. Allein oder tot? Sie wusste es nicht, und sie wollte es auch gar nicht wissen.
    Unwillkürlich schüttelte Marie den Kopf, um diese quälenden Gedanken zu vertreiben, und schritt dann langsam weiter durch eine etwas breitere Straße, auf welcher ihr schnaubend ein Dachs entgegenkam, so selbstverständlich und keck, als handele es sich bei ihm um den Schulzen dieses menschenleeren Ortes. Auf der Suche nach ihren Leuten warf Marie einen Blick in eines der größeren, noch recht robusten Häuser. Die Türe stand weit offen, und ihre rostigen Scharniere quietschten im Wind. Die Dämmerung erlaubte es bloß, einen vagen Blick ins Innere zu werfen, aber immerhin konnte Marie genug sehen, um zu erkennen, dass die Bewohner offenbar Zeit gehabt hatten, all ihre Siebensachen zu packen und mit sich zu nehmen. Das Haus war nahezu leer, sah man davon ab, dass sich, dem Geruch nach zu urteilen, offenbar eine Fuchsfamilie dort heimisch gemacht hatte. Vorsichtig setzte Marie einen Fuß über die Schwelle und ging ein paar Schritte hinein. In einer Nische in der noch immer weiß verputzten Wand stand ein Spielzeug. Eine kleine Figur, offenbar ein Ritter, aus grobem Holz geschnitzt, mit einem Kreuz auf der Brust und einer abgebrochenen Lanze in der Hand.
    » Einen solchen Ritter habe auch ich gesehen. In der letzten Nacht war es. «
    Marie fuhr herum. Die Stimme hinter ihrem Rücken hatte freundlich geklungen, aber dennoch war sie so plötzlich und unerwartet gekommen, dass Marie beinahe aufgeschrien hätte. Im Halbdunkel stand eine kleine, krumme Gestalt vor ihr, eingehüllt in ein graues Wolltuch. Man konnte nur ihr runzeliges Gesicht ausmachen, welches geprägt war von einer großen, knolligen Nase und einem schmalen, zahnlosen Mund, der nun gütig lächelte, während die beiden winzigen Äuglein tief in Maries Seele einzutauchen schienen.
    Eine Hexe, dachte Marie sofort und rieb sich die Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben, welche ihr über den gesamten Körper lief. Die Alte nahm ihr sanft das hölzerne Spielzeug aus den Händen und setzte es behutsam in seine Nische zurück.
    Ganz so, als wunderte sie sich gar nicht über das Erscheinen der fremden, jungen Frau. Und ganz so, als kannten sie sich bereits seit vielen Jahren, begann sie nun zu erzählen:
    » Sieben Tage lang hat es hier geregnet, Tag und Nacht, ohne Unterlass und in solchen Mengen, dass man meinte, der Himmel sei aufgebrochen und entlasse all sein Wasser. Das Bächlein, sonst ein Rinnsal nur und des Sommers meist gänzlich trocken, wurde zu einem reißenden Strom. Fortgespült wurde alles, was im Wege war. Haus und Hof, Mensch und Tier. Und auch der Berg, einem aus einem tiefen Schlaf erwachten Riesen gleich, begann sich zu bewegen. Von seinen Hängen rutschte Schlamm und Geröll und begrub die mühsam bestellten Felder unter seinen schmutzigen, unfruchtbaren Massen. Die Wege wurden zu Flüssen und spülten selbst die Toten aus ihren Gräbern, sodass sie regungslos und bleichgesichtig an den Häusern vorüberschwammen. Und als wolle auch der Teufel sich zu Worte melden, riss er von der Hölle aus einen tiefen Graben auf, gleich neben dem Gotteshaus. Rot soll dieser Spalt gewesen sein, Feuer soll aus ihm emporgelodert sein, und der Pfarrer samt dem Küster wurden verschlungen. Neunzehn Opfer wurden gezählt, fünf von ihnen wurden niemals gefunden. Es war ein Graus, ein Graus. Keinen hielt es mehr hier. Alle sind sie binnen einer Woche fort. Alle. «
    Marie unternahm nun nichts mehr gegen ihre Gänsehaut, sie musste hinnehmen, dass diese sich vorgenommen hatte, noch eine Weile über ihren Leib zu wandern. Es war eine grausige Geschichte, die das alte Weib da von sich gab, während es andächtig den Raum abschritt und liebevoll die Wände streichelte.
    » Aber Ihr seid geblieben, Mütterchen « , flüsterte Marie heiser.
    » Ja, das bin ich. «
    Nun kam sie wieder zu der mitten im leeren Raum stehenden Marie zurück und griff mit beiden dürren Händen nach den

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