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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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der Ratte getan hatte. Doch die Menge und der Umfang des Gekröses ließen ihn kapitulieren. Mit aufgekrempelten Armen und dem Messer in der Hand starrte er den Hirten an und zuckte mit den Schultern.
    »Schieb die Hände unter das Gedärm, such den Hals und setz dort das Messer an!«
    Eine Stunde später lagen die Innereien neben dem aufgeschichteten Berg toter Ziegen wie zu ihrem Hohn, eine danteske Zukunftsvision oder die warnende Drohung eines Mörders. Unterwegs hatte er mehrmals anhalten müssen, um die Gedärme wieder aufzulesen, die ihm von den Armen gerutscht waren.
    Den Rest des Tages gab der Alte von seinem Lager aus Anweisungen, die der Junge stillschweigend befolgte. Er begann die Ziege zu zerlegen, indem er ihr die Beineabtrennte und unbeholfen das Fleisch von den Knochen löste. Den gewonnenen Haufen Fleischfetzen schnitt er in so viele Streifen wie möglich, um sie auf einem Stein ausgebreitet kräftig einzusalzen. Einmal machte er während der Arbeit den Fehler, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Das Salz rann ihm über das feuchte Gesicht und drang in die Wunden auf seinen Wangen ein. Vor Schmerzen kniff er die Augen zu, fiel innerlich in ein Loch. Er schrie nicht. Er blickte nur zum Himmel auf und weinte. Unbewusst flehte er um Hilfe. Die glühenden Hände und das ätzende Salz im Gesicht. Wäre ein Tümpel in der Nähe gewesen, hätte er sich hineingestürzt. Der Alte sah den Schmerzenstanz des Jungen, der auf die Knie gesunken war und sich wand, und versuchte, sich aufzurichten, konnte ihm aber nicht helfen. Der Alte streckte die Hand in seine Richtung aus, bis ihm allmählich die Kräfte schwanden. Dann ließ er den Arm langsam sinken und schloss die Augen.
    Im seidigen Schimmer des Halbmonds wickelte der Junge mit geröteten Augen und noch immer brennendem Gesicht das Hanfseil ab, das den Messergriff gebildet hatte. Er klaubte in der Umgebung ein paar Stöcke zusammen und steckte sie in diverse Mauerlöcher. Dann verband er die Stöcke mit dem Hanfseil und hängte die Fleischstreifen darüber. Das Ergebnis zeichnete ein groteskes Grinsen auf die bläulichen Mauersteine, das sofort mit Fliegen übersät war. Anschließend sammelte er sein Werkzeug ein und ordnete es um den Alten herum an wie um einen gestrandeten Schiffbrüchigen. Seinen Instruktionen folgend trieb er die drei überlebenden Ziegen zusammenund fing sie mit Hilfe einer aus den Glockenhalsbändern der getöteten Ziegen geknüpften Leine ein. Dann machte er sie an einem Stein in der Nähe fest, damit die Tiere für den Hirtenstab erreichbar blieben. Er legte dem Esel die Satteldecke auf, band die leeren Flaschen zusammen und hängte sie über den Eselsrücken wie zwei mit der Schnur verknotete Stiefel.
    Als es bereits tagte, hielten sie die Reisevorbereitungen für beendet. Die Luft bewegte sich kaum, und die Mauersteine strahlten still ihre Wärme ab. Sie aßen das Wenige, das ihnen geblieben war: Brotkrumen, eine Handvoll vom Boden aufgelesene Rosinen und etwas Wein. Später bat der Alte den Jungen, sich zu ihm zu setzen.
    »Ich werde dir das Melken beibringen.«
    Verwundert blickte der Junge den Hirten an. Zu einem anderen Zeitpunkt wären diese Worte für ihn ein Grund zur Freude gewesen. In ihrer augenblicklichen Lage erstaunte es ihn allerdings, dass der Hirte dafür seine Zeit aufbringen wollte.
    »Es ist schon spät. Wenn ich nicht zeitig aufbreche, wird es noch ganz hell werden.«
    »Ich weiß, dass es spät ist.«
    »Sie können es mir zeigen, wenn ich zurück bin.«
    Eine Schar schwarzer Vögel zog in Richtung Brunnen vorüber. Ihre Flügelschläge wie klopfende Holztäfelchen am dunklen Himmel. Die traurige Gestalt des Esels bewegte sich mit hängendem Kopf. Dem Jungen stiegen die Tränen in die Augen, doch er weinte nicht, schniefte nur leise vor sich hin. Er blieb einfach neben dem zusammengekrümmten Alten sitzen und spürte, wie sich derHimmel an der Erde rieb. Ein uraltes Rumoren aus den Tiefen des Felsgesteins. Er stellte sich eine Wassermühle in einem Buchenhain vor und Berge am Horizont wie gezackte Handsägen. Den Himmel, der auf die Erde drängte, sich über ihr ergoss, und hoch aufragende Berggipfel. Das Haus der Götter. Das Paradies, von dem der Pfarrer so oft sprach. Ein grüner Teppich, auf dem lässig die Bäume ruhten, nichtsahnend von der eigenen Üppigkeit. Ahorn, Tannen, Zedern, Eichen, Kiefern, Farn. Sprudelndes Wasser zwischen immer feuchten Felsen. Über allem ein Teppich aus frischem

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