Die Flucht: Roman (German Edition)
Moos. Teiche, glasklar, und strahlender Sonnenschein über Flüssen auf steinigem Grund. Strudel, abwechselnd ruhige Gewässer, auf deren spiegelnde Oberfläche das Licht flimmernde Spiralen zeichnete.
Er hörte auf zu schniefen, erhob sich, fing eine der Ziegen ein und stellte sie vor den Alten hin, ohne sie von dem mit den Halsbändern geknüpften Seil zu lösen. Dann hockte er sich neben ihn und wartete, während der Mann die Büchse an ihren Platz stellte. Kaum hatte er das getan, bat der Hirte den Jungen, die Zitzen mit den Händen zu greifen. Der legte die hohle Faust um die Zitzen und drückte zu. Da half der Hirte ihm und verschob ihm die Daumen so, dass sie die Zitzen mit den Nägeln gegen die Innenseite der übrigen Finger pressten. Wortlos umfasste er dann die Hände des Jungen mit seinen und bearbeitete die Zitzen, bis die Milch hervorsprudelte. In kürzester Zeit hatten sie sowohl die Büchse als auch die Ölkanne gefüllt und eine Ziege bis auf den letzten Tropfen ausgepresst. Sie teilten sich die Milch aus der Büchseund hoben die Kanne für das Frühstück des Alten am nächsten Morgen auf.
Später, als er schon auf dem Esel saß, schenkte er dem immer noch daliegenden Hirten einen letzten Blick. Sein Bart war von Milchresten verklebt. Er schlief oder war ohnmächtig. Eine sanfte Brise erinnerte den Jungen daran, dass sein Gesicht vor einer Weile noch wie ein Stern geglüht hatte.
»Hüte dich vor den Leuten aus dem Dorf.«
Die vage Stimme des schlaff am Boden ausgestreckten Alten. Der Junge wandte den Kopf in Richtung Norden und sah seinem ungewissen Schicksal entgegen. Dann packte er den Proviantsack auf den Sattel und stieß dem Esel die Hacken in die Seiten, bis dieser sich in gemächlichem Trott, begleitet von mürrischem Schnauben, von der Burg entfernte.
8
D er Mond hing am wolkenlosen Himmel. Abermilliarden Sterne über seinem Kopf, viele von ihnen längst gestorben, sandten zwinkernd ihr Licht. Er musste den Treidelweg in nördliche Richtung einschlagen, bis er an eine Schleuse kam. Von dort auf einen Pfad abbiegen, der einen sanften Abhang hinabführte, und ihm einige Stunden lang folgen, bis er an einen kleinen Eichenhain gelangte, von dem aus er in der Ferne das Dorf erspähen würde. Dort befand sich der Brunnen. Der Alte hatte geschätzt, dass die Häuser im Morgengrauen in Sicht kommen müssten, sofern er sich unterwegs nicht verirrte.
Sie trotteten den ausgetrockneten Kanal entlang, von dem in gewissen Abständen Seitenkanäle abzweigten, die er irgendwo in der Weite der öden Landschaft aus den Augen verlor. Blaue nutzlose Äcker. Hin und wieder sackte ihm der Kopf weg, und er geriet aus dem Gleichgewicht. Dann berappelte er sich schnell wieder und trieb den Esel mit der Gerte an, woraufhin das Tier ungehalten schnaubte, aber keine Spur schneller wurde. Dem Jungen war klar, dass sie so nicht besser vorankamen als zu Fuß.Dennoch blieb er lieber im Sattel, um sich das bisschen Kraft, das ihm noch geblieben war, für den Moment aufzusparen, an dem sie den Brunnen erreichten.
»Hüte dich vor den Leuten aus dem Dorf.«
Jedes Mal, wenn der Esel stolperte, schreckte der Junge hoch und grübelte über den Satz des Alten. Doch bald wurde sein Kopf wieder schwer, bis er ihm auf die Brust sank und er sich erneut in seinen Gedanken und Erinnerungen verlor. Das Erdloch, der Palmenhain, der lindernde Umschlag, die Schießscharte, das Glied des Hirten, die Kippen des Polizeiwachtmeisters.
Sobald der Junge die Schleuse entdeckt hatte, nickte er nicht mehr ein. Er gab dem Esel die Sporen, trieb ihn mit dem Druck seiner Schenkel an, ohne Erfolg. Er stieg ab und führte das Tier die letzten Meter am Halfter. Am Kanalufer ließ er den Esel frei, der sich sogleich mit gesenktem Kopf auf die Suche nach trockenen Halmen machte. Der Junge erklomm die Schleusenkammer, in die der erhöhte Bewässerungsgraben einmündete. An dieser Stelle bildete der Kanal ein T mit zwei in entgegengesetzte Richtungen abschwenkenden Armen. Zwei von Schiebern betriebene eiserne Schleusentore dienten zur Regulierung des Wasserzu- und ablaufs. Von seinem Aussichtsposten aus wandte er sich gen Süden und blickte dem verfallenen Kanal nach, bis die Umrisse sich in der Dunkelheit verloren. Das Bett des Bewässerungsgrabens war von getrocknetem Schlamm bedeckt. Er drehte sich um und musterte die nach Norden hin abfallende Ebene und den Pfad, der sich abwärts durch das Gelände schlängelte.Er sah weder Dörfer noch
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