Die Flucht: Roman (German Edition)
herabgestürzte Holzbalken, die riesige Löcher gerissen hatten, durch die das Licht auf gewaltige Schuttberge fiel. Gemusterte Fliesen, die Farbe schmutzig und ausgeblichen. Hin und wieder ein Porträt der Monarchen oder veraltete Kalender mit Reklamen für Düngemittel. Er fand mit Hanfseilen umwickelteHolzträger und Bruchstücke von eingezogenen, stuckverzierten Rohrputzdecken. Hier und da baumelten Regenrinnen lose von den Fassaden, die Löcher der herausgerissenen Halterungen wie Kugeleinschüsse im Mauerwerk. Der abbröckelnde Putz gab die Sicht auf Häusergerippe, Balken und grobe Holzstreben frei. Er näherte sich einem der Gebäude und warf einen Blick hinein. Es roch nach dunklen Räumen und verfaulten Oliven. Von irgendwoher im Dachgebälk hörte er Taubengeflatter und eintöniges Gurren.
Am anderen Ende des Dorfes verbreiterte sich die Straße zu einem Platz. Auf der einen Seite stand ein Brunnen mit einer Winde am Galgen, doch Seil und Eimer fehlten. Ohne große Hoffnung beugte er sich über den Rand aus Granitstein, und bis seine Augen sich an die Schwärze in der Tiefe gewöhnt hatten, sah er nichts. Als das Dunkel sich allmählich lichtete, zeichnete sich die Mauerwand ab, die etwa fünf Meter tief reichte, am Ende ein Bogen aus Ziegelsteinen. Darunter konnte er nichts mehr erkennen. Er ließ einen Stein fallen, der auf den Bogen aufprallte und dann weiter in die Tiefe hinabstürzte. Kurz darauf vernahm er ein dumpfes Platschen. Er warf noch ein paar Steinchen hinterher, um sicherzugehen. Die Hände auf den Rand gestützt, atmete er durch.
Nur zu gut wusste er, was ein verlassener Brunnen mit fauligem Wasser bedeutete. Er streifte durch die Häuserruinen und löste Hanfseile vom Holz. Manche waren einfach darumgewickelt, andere mit schmiedeeisernen Reißnägeln befestigt. Mit Hilfe des losen Metallbands einer Blattfeder zog er Nägel heraus, bis er genügendSeile zusammen hatte. In einer Vorratskammer fand er mehrere aufgeblähte Konservenbüchsen. Eine davon stellte er auf den Boden, hielt sie mit einer Hand fest und schlug mit einer Fliesenecke darauf ein. Ein brauner Strahl spritzte hervor. Der Gestank war so unerträglich, dass er auf die Straße hinausrennen musste, um Luft zu holen. Während er wartete, bastelte er sich aus einem Einmachtopf, an den er eine Kordel als Griff knüpfte, einen Schöpfeimer. Später öffnete er die Büchse mit der Blattfeder, kippte sie an Ort und Stelle aus und kehrte zum Brunnen zurück.
Im Wasser, das er hochholte, schwammen kleine weiße Würmer, die sich abwechselnd zusammenzogen und streckten wie winzige Sprungfedern. Er goss etwas Wasser in die Büchse und spülte sie aus. Als sie halbwegs sauber war, zog er sich das Hemd aus und legte es als Filter über die Gefäßöffnung. Würmer und Kaulquappen blieben im Stoff hängen, zappelnd wie Fische im Netz. Der erste Schluck schmeckte schlammig, doch vor lauter Durst ignorierte er das Warnzeichen und trank, bis er nicht mehr konnte.
Er wusch sich das verkrustete Gesicht, und das Wasser tropfte schwarz vor Ruß und Staub zu Boden. Dann entkleidete er sich und ließ den Topf erneut hinab in die Tiefe. Das Wasser vermochte ihn nicht vollständig vom Schmutz zu befreien, aber es erfrischte, und zum ersten Mal, seit er von zu Hause ausgerissen war, fühlte er sich ein wenig an die Annehmlichkeiten erinnert, die er in seinem Elternhaus genossen hatte. Ein Gemisch aus Ruß, Staub, Blut und Urin bildete dunkle Schmutzrinnsale, dieihm an den Beinen hinabliefen. Mehrmals wusch er sich das Gesicht ab, und bevor er aufbrach, um den Esel zu holen, setzte er sich auf den Brunnenrand, um Kraft zu schöpfen.
Die ersten Krämpfe überfielen ihn auf halbem Weg zwischen dem Dorf und dem Eichenhain. Koliken, die ihn zwangen, sich mitten auf dem Weg zusammenzurollen wie ein Fötus. Selbst gekrümmt durchzogen immer neue Krampfwellen seinen Unterleib, und es hämmerte heftig in seinen Gedärmen. Gleich an Ort und Stelle riss er sich die Hosen herunter, um sich zu entleeren. So verschaffte er sich vorübergehend Linderung. Er säuberte sich mit einem Stein, doch als er die Hose wieder hochziehen wollte, ließ ihn ein neuer Krampfanfall taumeln. Er schaffte es gerade noch, sich wieder auszuziehen, bevor ein neuer Schwall ihm die Hosenbeine verdreckte. Es war ein unbändiger Drang, ein Gefühl, als öffnete sich in seinem Körper ein Hahn, der sich nicht mehr schließen ließ.
Der Esel graste noch friedlich an derselben Stelle, an
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