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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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ihn gegen Aarons Schläfe, ehe ich noch nachdenken kann.
    »WUMM!« Und noch einmal.
    »WUMM!« Und wieder.
    Ich spüre, wie er von mir wegrutscht, ich hebe den Kopf, verschlucke mich an Wasser und Luft, setze mich auf und hebe den Stein, um noch einmal zuzustoßen, aber Aaron liegt vornüber im Wasser, das Gesicht halb drin, halb draußen, seine Zähne blitzen durch die klaffende Wangenwunde. Auch als ich von ihm wegkrieche, hustend, spuckend, bleibt er da. Er sinkt ein wenig tiefer ins Wasser und rührt sich nicht.
    Meine Kehle fühlt sich an wie entzweigerissen. Ich würge Wasser hoch und kann endlich ein wenig besser atmen.
    »Todd? Todd? Todd?«, bellt Manchee. Er kommt zu mir, japst und will mich abschlecken wie ein kleiner ungestümer Welpe. Ich kraule ihn zwischen den Ohren, weil ich noch nicht sprechen kann.
    Und dann bemerken wir beide die Stille und schauen hoch, und da ist sie auf einmal, sie steht vor uns, mit gefesselten Händen.
    Zwischen den Fingern hält sie das Messer.
    Einen Augenblick lang sitze ich wie erstarrt da und Manchee fängt an zu knurren, aber dann begreife ich. Ich hole ein paarmal tief Luft, dann nehme ich ihr das Messer ab und zerschneide das Seil, mit dem Aaron ihre Hände zusammengebunden hat. Die Fessel fällt zu Boden. Sie reibt sich die wunden Stellen, starrt mich an, sagt kein Wort.
    Sie weiß es. Sie weiß, dass ich es nicht fertiggebracht habe. Verdammt noch mal, denke ich bei mir. Verdammt noch mal.
    Sie blickt auf das Messer. Sie blickt zu Aaron, der im Wasser liegt.
    Er atmet noch. Bei jedem Atemzug gurgelt er Wasser, aber er atmet noch.
    Ich packe das Messer etwas fester. Sie sieht mich an, dann das Messer, dann Aaron, dann wieder mich.
    Will sie es? Fordert sie mich tatsächlich auf, es zu tun? Er liegt da, wehrlos, vermutlich am Ertrinken.
    Und ich habe ein Messer.
    Ich stehe auf, falle wieder hin, so taumelig bin ich, und stehe wieder auf. Dann gehe ich auf ihn zu. Ich hebe die Hand mit dem Messer. Wieder einmal.
    Sie schnappt nach Luft, und ich spüre genau, wie sie den Atem anhält.
    Manchee fragt: »Todd?«
    Das Messer schwebt über Aaron. Noch einmal bietet sich mir die Chance. Noch einmal habe ich das Messer gezückt.
    Ich könnte es tun. Niemand in New World würde es mir verdenken. Ich hätte alles Recht dazu.
    Ich könnte es tun.
    Aber ein Messer ist nicht einfach irgendein Gegenstand. Es stellt einen vor die Wahl, es ist etwas, mit dem man Dinge tut. Ein Messer sagt Ja oder Nein, stößt zu oder nicht, gibt den Tod oder nicht. Ein Messer führt deine Entscheidung aus, trägt sie in die Welt, sodass sie nie mehr rückgängig gemacht werden kann.
    Aaron wird sterben. Sein Gesicht ist zerfetzt, sein Kopf eingeschlagen, er sinkt immer tiefer in das seichte Wasser, ohne noch einmal aufzuwachen. Er hat versucht mich zu töten, er wollte das Mädchen töten, er ist verantwortlich für den Aufruhrin der Stadt. Nur er kann den Bürgermeister auf die Farm geschickt haben, und deshalb ist er schuld an dem, was mit Ben und Cillian geschehen ist. Er verdient es zu sterben. Er verdient es.
    Aber ich schaffe es nicht, zuzustechen und die Sache ein für alle Mal zu erledigen.
    Wer bin ich?
    Ich bin Todd Hewitt.
    Ich bin der größte, nutzloseste Scheißkerl, den die Menschheit kennt.
    Ich schaffe es nicht.
    Verdammt noch mal, denke ich wieder.
    »Komm mit«, sage ich dann zu ihr. »Wir müssen weg von hier.«

9
    Wenn das Glück nicht mit dir ist
    Zuerst scheint sie nicht mitkommen zu wollen. Sie hat auch gar keinen Grund dazu, ebenso wenig wie ich einen Grund habe, sie aufzufordern, aber als ich ein zweites Mal »Komm mit« sage, nun etwas drängender, und dazu gestikuliere, folgt sie mir und Manchee, und das ist es dann, keine Ahnung, ob es richtig ist, aber genau das ist es, was wir tun.
    Inzwischen ist die Nacht wirklich da. Der Sumpf wirkt noch undurchdringlicher und so schwarz, wie’s schwärzer nicht mehr geht. Wir eilen zurück zu der Stelle, wo ich meinen Rucksack habe liegen lassen, laufen ein wenig im Kreis und versuchen möglichst viel Abstand zwischen uns und Aarons Leiche (bitte, lass es eine Leiche sein) zu bringen. Wir klettern über Baumstämme und über Wurzelgeflecht und dringen immer tiefer in den Sumpf ein. Als wir auf eine schmale Lichtung gelangen, die eben ist und ohne Baumdickicht, lasse ich unseren kleinen Trupp anhalten.
    Ich habe das Messer noch in der Hand. Es ruht dort, funkelt mich an wie eine Anklage, blinkt mir das Wort »Feigling« zu. Es

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