Die Flucht
trockener. Die Bäume stehen weniger dicht und immer öfter scheint die Sonne direkt auf uns. Nach einer Weile erreichen wir eine schmale Lichtung, die fast so frei ist wie ein kleines Feld, das ansteigt bis zu einem Felsvorsprung über den Baumwipfeln. Wir klettern hinauf und bleiben oben stehen. Sie kramt etwas von dem Früchtezeugs hervor. Frühstück. Wir essen im Stehen.
Ein Blick über die Baumkronen verrät uns, welchen Weg wir einschlagen müssen. Am Horizont erhebt sich der größere Berg, und dahinter, in leichten Dunst gehüllt, die beiden kleineren.
»Da müssen wir hin«, sage ich und deute in die Richtung. »Wenigstens nehme ich das an.«
Sie legt ihr Fruchtzeugs weg und wühlt erneut in ihrer Tasche. Dann zieht sie das zierlichste Fernglas hervor, das man sich vorstellen kann. Mein altes Fernglas zu Hause, das ich vor Jahren zerbrochen habe, war im Vergleich dazu so groß wie ein Brotkasten. Sie hebt es an die Augen und blickt eine Weile hindurch, ehe sie es an mich weiterreicht.
Ich nehme es und schaue in die Richtung, in die wir gehen wollen. Alles ist so klar und deutlich. Das Land erstreckt sich vor uns als grüner Wald, der hügelabwärts in eine Landschaft aus Tälern mündet, richtiges Land, mit festem Boden, nicht mehr diese Schlammschüssel, ja, man sieht sogar, wo sich das Marschland in einen Fluss zurückverwandelt, der immer tiefere Schluchten gräbt, je weiter er auf die Berge zufließt. Man kann sogar sein Rauschen hören. Ich schaue und schaue, sehe aber nirgends eine Siedlung. Doch wer weiß schon, was sich hinter der nächsten Kurve verbirgt? Wer weiß schon, was vor uns liegt?
Ich blicke zurück, dorthin, von wo wir gekommen sind, aber es ist noch früh am Tag und fast der ganze Sumpf ist in Morgennebel eingehüllt, der alles verdeckt, nichts offenbart.
»Nettes Gerät«, sage ich und reiche ihr das Fernglas. Sie steckt es in ihren Rucksack und dann stehen wir eine Minute lang da und essen.
Wir sind auf Armeslänge voneinander entfernt, denn ihre Stille macht mich immer noch nervös. Ich kaue auf einem Bissen getrockneter Früchte herum und frage mich, wie es wohl ist, keinen Lärm zu haben, wie es ist, von einem Ort zu kommen, an dem es keinen Lärm gibt. Wie soll man sich das vorstellen? Was für ein Ort ist das? Ist es dort wunderbar? Oder schrecklich?
Angenommen, man steht auf einem Hügel mit jemandem, der keinen Lärm hervorbringt. Wäre es dann so, als sei man dort allein? Wie würde man das Erlebnis miteinander teilen? Würde man das überhaupt wollen? Ich meine, hier stehen wir, sie und ich, auf der Flucht vor schrecklichen Gefahren, einer Flucht ins Unbekannte, und da ist kein Lärm, der sich mit anderem Lärm mischt, nichts, was uns darüber Aufschluss gibt, was der andere gerade denkt. Ist das Leben von Anfang an genauso gedacht gewesen?
Ich esse die Früchte auf und zerknülle das Päckchen. Sie streckt die Hand aus, nimmt es und stopft den Abfall in ihre Tasche. Kein Wort, nicht die kleinste Bemerkung, lediglich mein eigener Lärm ist zu hören und von ihr ein riesengroßes Nichts.
Ob es wohl damals auch so war für meine Ma und meinen Pa, als sie hier gelandet sind? War New World ein stiller Ort, ehe ... ich meine, davor.
Ich starre das Mädchen an.
Davor.
Oh nein.
Was für ein Idiot ich doch bin.
Was für ein bescheuerter, gottverdammter Idiot.
Sie sendet keinen Lärm aus. Und sie ist mit einem Schiff gekommen. Das bedeutet, sie kam von einem Ort, an dem es keinen Lärm gibt, ist doch logisch, du Blödmann.
Das bedeutet, sie ist hier gelandet und hat sich noch nicht mit dem Lärmbazillus angesteckt.
Das bedeutet, dass, wenn sie es tut, er bei ihr die gleichen Folgen haben wird wie bei allen anderen Frauen.
Der Bazillus wird sie töten.
Er wird sie töten.
Ich schaue sie an und die Sonne scheint auf uns herab, und ihre Augen werden immer größer und größer, während ich nachdenke, und da begreife ich es, dumm, wie ich bin, da es doch so offensichtlich ist.
Denn nur weil ich bei ihr keinerlei Lärm höre, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht jedes Wort meines Lärms versteht.
11
Das Buch, das keine Antworten gibt
»Nein!«, sage ich rasch. »Hör nicht auf mich! Es stimmt nicht, was ich sage. Es stimmt nicht! Ich habe mich getäuscht! Es stimmt nicht!«
Aber da weicht sie schon vor mir zurück, lässt das leere Proviantpäckchen fallen und sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an.
»Nein, du darfst nicht ...«
Ich mache einen
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