Die Flucht
immer müder. Wir versuchen, nicht an das zu denken, was wir in Farbranch gesehen haben, und wir laufen, wir rennen, es kommt uns vor, als wären wir die halbe Nacht gerannt, und noch immer haben wir den Fluss nicht erreicht. Ich habe langsam Angst, dass wir die falsche Abzweigung genommen haben, aber das lässt sich nun nicht mehr ändern, denn Umkehren ist nicht.
»Umkehren geht nicht«, höre ich Viola verhalten hinter mir sagen.
Ich wirble herum, sehe sie mit Riesenaugen an. »Das ist aus zwei Gründen falsch«, sage ich. »Erstens: Wenn du andauernd den Lärm anderer Leute liest, wirst du dir hier nicht viele Freunde machen.«
Sie verschränkt die Arme vor der Brust und drückt die Schultern zurück. »Und zweitens?«
»Zweitens rede ich, wie es mir passt.«
»Ja«, sagt Viola, »das tust du.«
Mein Lärm wird ein wenig lauter, und ich hole tief Luft,doch dann sagt sie: »Pst!«, und ihre Augen blitzen im Mondlicht, als sie an mir vorbeischaut.
Das Geräusch von fließendem Wasser.
»Fluss!«, bellt Manchee.
Wir laufen los, um eine Biegung herum, einen Abhang hinunter, wieder um eine Biegung, und dann liegt der Fluss vor uns, breiter, flacher und träger, als wir ihn zum letzten Mal gesehen haben. Wir sprechen kein Wort, knien uns auf die Steine am Ufer und trinken. Manchee geht bis zum Bauch ins Wasser, ehe er zu schlabbern anfängt.
Viola kniet neben mir, und während ich das Wasser schlürfe, ist ihre Stille ganz nah. Das ist eine Sache mit zwei Seiten. So deutlich sie meinen Lärm hört, hier draußen, wo wir ganz allein sind, weit weg von jedem Geplapper und dem Lärm der Stadt, so deutlich höre ich ihre Stille, sie ist wie ein Dröhnen, sie erfasst mich wie eine große Trauer, und dann will ich die Stille ergreifen, mich selbst hineinpressen und einfach für immer in diesem Nichts verschwinden.
Welch eine Erlösung das wäre. Welch ein Segen.
»Ich kann nicht anders, als dich zu hören, weißt du«, sagt sie, steht auf und öffnet ihre Tasche. »Wenn es ruhig ist und nur wir zwei da sind.«
»Und ich kann nicht anders, als dich nicht zu hören«, erwidere ich. »So ist das nun mal.« Ich pfeife Manchee herbei. »Raus aus dem Wasser! Vielleicht sind Schlangen drin.«
Er duckt sich in die Strömung und wedelt, bis sich der Verband löst und davonschwimmt. Dann springt er aus dem Wasser und beginnt sofort, seinen Schwanz zu lecken.
»Lass mich mal sehen«, sage ich. Er bellt: »Todd!«, um mir zu sagen, dass er nichts dagegen hat, aber als ich näher komme,zieht er den Schwanz ein, soweit das in diesem verstümmelten Zustand überhaupt geht. Vorsichtig ziehe ich seinen Schwanz unter dem Bauch hervor, während Manchee ununterbrochen »Schwanz, Schwanz« vor sich hin murmelt.
»Na also«, sage ich zufrieden. »Dieser Verband wirkt auch bei Hunden.«
Viola hat zwei seltsame Scheiben aus ihrer Tasche gefischt. Sie drückt mit den Daumen darauf und sofort blasen sie sich zu Wasserflaschen auf. Sie kniet sich ans Ufer, füllt beide mit Wasser und wirft mir eine zu.
»Vielen Dank«, sage ich, ohne in ihre Richtung zu schauen.
Sie wischt das Wasser ab, das an der Flasche heruntergelaufen ist. Einen Augenblick lang bleiben wir noch am Ufer stehen, dann verstaut sie die Wasserflasche in ihrer Tasche und schweigt so, wie sie es immer tut, bevor sie etwas Schwieriges sagen will.
»Ich will dir nicht zu nahetreten«, beginnt sie, »aber vielleicht ist es an der Zeit, dass ich die Notiz auf der Landkarte lese.«
Sogar im Dunkeln merke ich, wie ich rot werde, und ich spüre, dass ich zum Streiten aufgelegt bin.
Aber dann seufze ich. Ich bin müde, und es ist spät, und wir müssen weiter, und sie hat ja Recht. Das zu leugnen wäre schäbig.
Ich lasse den Rucksack zu Boden fallen, hole das Buch hervor und falte die Karte auf, die im vorderen Buchdeckel steckt. Ohne Viola anzublicken, gebe ich ihr die Karte. Sie holt die Taschenlampe und richtet den Lichtkegel auf das Papier, dann direkt auf die Botschaft, die Ben geschrieben hat. Zu meiner Verblüffung beginnt sie laut und flüssig zu lesen, und obwohlich ihre Stimme höre, ist es, als würde Ben zu mir sprechen aus Prentisstown, über den Fluss herüber, und es trifft mich wie ein Faustschlag gegen die Brust.
» Geh zu der Siedlung, die flussabwärts liegt, und überquere die Brücke «, liest sie vor. » Die Siedlung heißt Farbranch und die Menschen dort werden dich gut aufnehmen .«
»Das haben sie«, sage ich. »Wenigstens einige von
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