Die Flucht
kommen.«
»Oh ja, ich werde sie hören«, erwidere ich. »Ich werde sie ganz bestimmt hören.«
Wir beschließen, abwechselnd zu schlafen. Ich schlage vor, als Erster zu wachen, und Viola kann nicht mal mehr Gute Nacht sagen, so schnell ist sie eingeschlafen. Ich betrachte sie, wie sie schläft, während es um uns herum immer dunkler wird. Dass wir uns in Hildys Haus gewaschen haben, ist längst nicht mehr zu erkennen. Ich sehe bestimmt genauso aus wie Viola, das Gesicht dreckverschmiert, habe dunkle Ringe unter den Augen und schmutzige Fingernägel.
Das bringt mich ins Grübeln.
Ich kenne sie erst seit drei Tagen. Drei verdammte Tage in meinem ganzen Leben, und doch gleicht dieses Erlebnis nichts anderem in meinem bisherigen Leben. Als ob alles eine große Lüge gewesen wäre, die nur darauf gewartet hat, dass ich sie entdecke. Nein, nicht »als ob«, es war tatsächlich eine große Lüge, und dies hier ist das wahre Leben, das weder Antworten noch Sicherheiten bietet; das nur einfach weitergeht, immer und immer weitergeht.
Ich nehme einen Schluck Wasser und lausche den Grillen, die Sex Sex Sex zirpen, und ich frage mich, wie Violas Leben verlaufen ist bis zu den letzten drei Tagen. Wie ist es, in einem Raumschiff aufzuwachsen? An einem Ort, an dem man immer wieder nur dieselben Menschen trifft, an einem Ort, den man niemals verlassen kann.
Im Grunde ist das Raumschiff ein Ort wie Prentisstown. Wer von dort verschwindet, taucht auch nie wieder auf.
Ich blicke zu Viola hinüber. Aber sie ist hier aufgetaucht. Sie hat das Mutterschiff für sieben Monate verlassen, zusammen mit ihrer Ma und ihrem Pa, in der kleinen Raumkapsel, die zerschellt ist.
Ich frage mich, warum.
»Man muss Erkundungsschiffe ausschicken und damit den Planeten aus der Nähe erforschen, um die besten Landeplätze zu finden«, antwortet sie, ohne sich aufzusetzen, ja, ohne auch nur den Kopf zu heben. »Wie kann ein Mensch jemals schlafen in dieser Welt voller Lärm?«
»Man gewöhnt sich dran«, antworte ich. »Aber weshalb so lange? Warum sieben Monate lang?«
»So lange dauert es, ein erstes Lager zu bauen.« Erschöpft legt sie die Hände auf die Augen. »Meine Mutter, mein Vater und ich sollten die besten Landeplätze für die Raumschiffe finden und das erste Camp errichten. Dann sollten wir damit beginnen, die notwendigen Vorrichtungen zu bauen. Einen Kontrollturm, ein Lagerhaus, ein Krankenhaus.«
Sie sieht mich durch ihre Finger hindurch an. »Das ist die Standardprozedur.«
»Ich habe in New World noch nie Kontrolltürme gesehen«, sage ich.
Bei diesen Worten setzt sie sich auf. »Das weiß ich. Es ist unglaublich, aber ihr habt hier ja nicht einmal Kommunikatoren, mit denen ihr euch von Ort zu Ort unterhalten könnt.«
»Also seid ihr keine Siedler, die aus religiöser Überzeugung gekommen sind«, sage ich besonders gescheit.
»Was hat das damit zu tun?«, fragt sie. »Warum sollten sich Kirchenmitglieder vor der gesamten Außenwelt abschotten?« »Ben sagte, die Siedler seien auf diesen Planeten gekommen,um ein einfacheres Leben zu führen. Zu Beginn der Besiedlung wurde darüber gestritten, ob man die Atomgeneratoren zerstören sollte oder nicht.«
Viola wirft mir einen entsetzten Blick zu. »Hättet ihr das getan, wärt ihr alle gestorben.«
»Vermutlich hat man sie deshalb nicht zerstört«, sage ich achselzuckend. »Nicht einmal, nachdem Bürgermeister Prentiss beschlossen hat, so gut wie alles andere loszuwerden.«
Viola reibt ihre Schienbeine und blickt zu den Sternen hinauf, die durch das Loch im Dach hereinscheinen. »Mein Vater und meine Mutter waren so voller Vorfreude«, erzählt sie. »Eine völlig neue Welt, ein ganz neuer Anfang, die Träume von Frieden und Glück.« Sie hält inne.
»Es tut mir leid, dass es anders gekommen ist«, sage ich.
Sie blickt auf ihre Füße hinab. »Würde es dir etwas ausmachen, so lange draußen zu warten, bis ich eingeschlafen bin?«
»Nein, ist schon in Ordnung.« Ich nehme meinen Rucksack und trete durch die Öffnung, wo einst die Eingangstür war. Manchee, der zusammengerollt dagelegen hat, steht auf und kommt mir nach. Als ich mich hinsetze, rollt er sich zu meinen Füßen zusammen und schläft ein, dann furzt er und seufzt nach Hundeart. Wie einfach es ist, ein Hund zu sein.
Ich sehe die Monde aufgehen, die Sterne ziehen hinter ihnen her, es sind dieselben Monde und dieselben Sterne wie in Prentisstown, sogar hier draußen, am Ende der Welt. Ich hole das Buch
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