Die Fluchweberin
ihrem Arm und wollte an mir vorbei.
Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Aber ich durfte sie keinesfalls einfach gehen lassen. Ich musste sie dazu bringen, den Mund zu halten. Mit einem entschlossenen Schritt vertrat ich ihr den Weg. »Ich weiß, dass du mich nicht leiden kannst, aber du darfst das niemandem erzählen. Das wäre mein Tod.«
Kim blinzelte. »Wovon redest du überhaupt, du Loser?«
»Das weißt du sehr genau.«
Ein Ruck ging durch ihren Körper. Schlagartig wurde ihre Miene starr. »Sie weiß es nicht.« Es war Kims Stimme, doch die Betonung war eine andere. Frei von Kims gewohnter Arroganz. Als spräche jemand anderes aus ihr. Es war die Stimme, die ich zuvor schon in ihrem Kopf vernommen hatte. »Sie ist ahnungslos.«
Mir wurde eiskalt. »Was?«
»Keine Angst, kleine Zauberin«, flötete Kims Stimme. »Dein Geheimnis ist bei mir sicher, solange du uns aus dem Weg gehst.«
Kim – das Wesen, das in ihrem Körper steckte – trat näher. Ihre Augen waren auf mich geheftet. Langsam, als hätte sie Angst, mich zu verschrecken, hob sie die Hand und legte sie mir auf den Arm. Ihre Finger fühlten sich kühl an durch den Stoff meiner Bluse. Eine Gänsehaut kroch meinen Arm nach oben und breitete sich über meinen Rücken aus. Nur mühsam konnte ich ein Schaudern unterdrücken.
»Du!« Sie riss ihre Hand zurück, als hätte sie sich an meinem Arm verbrannt. Zorn verwandelte ihre hübschen Züge in eine Grimasse. »Du warst das! Du bist für all das Ungemach verantwortlich, das mir widerfahren ist.« Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Dafür wirst du bezahlen.«
Sie holte aus. Ich hob den Arm, um ihren Angriff abzufangen, als ihre Hand mitten im Schlag in der Luft innehielt. Etwas in ihren Augen veränderte sich, der Zorn wich Verwirrung. Dann ließ sie den Arm sinken. »Komm mir nie wieder in die Quere, du Freak.«
Kim. Eindeutig. Wer auch immer durch sie agiert hatte, war fort. Sie stieß mich zur Seite und rauschte an mir vorbei aus dem Waschraum. Meine Knie zitterten so sehr, dass ich mich abstützen musste. Was zum Teufel war das? Wer zum Teufel war das?
15
Für den Rest des Tages machte ich einen großen Bogen um Kim. Wann immer ich sie nur von Weitem sah, schlug ich sofort eine andere Richtung ein, und wenn wir gemeinsame Stunden hatten, schlüpfte ich erst kurz vor Unterrichtsbeginn in den Klassenraum. Ich mied ihren Blick ebenso wie jede andere Form der Konfrontation. Skyler gegenüber behauptete ich, dass mir mein Mittagessen nicht bekommen sei. Damit ließ sich nicht nur meine abrupte Flucht aus dem Speisesaal erklären, sondern auch die Tatsache, dass ich mich zwischen den Stunden immer wieder in einen Waschraum flüchtete und mich in einer Kabine einsperrte.
Natürlich war mir klar, dass ich das nicht ewig durchziehen konnte. Abgesehen davon, dass mein Verhalten früher oder später Aufsehen erregen würde, war es keine Lösung für mein Problem. Dummerweise hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wie ich mein Problem lösen sollte.
Es konnte doch unmöglich sein, dass – nach allem, was bereits schiefgelaufen war – jetzt auch noch die Aufhebung des Fluchs danebengegangen sein sollte. Und selbst wenn der Fluch noch auf ihr läge, erklärte das noch lange nicht, was passiert war. Das war nicht Kim gewesen, die da zu mir gesprochen hatte. Ganz sicher hatte ich ihr kein zweites Ich eingepflanzt.
Vielleicht konnte ich mehr darüber in Erfahrung bringen, wenn ich mir noch einmal ihre Aura ansah.
Statt Mr Cranstons Ausführungen über Mathematik zu lauschen, beugte ich mich über meine Bücher, bis mir die Haare wie ein Vorhang ins Gesicht fielen, und schloss die Augen.
Im ersten Moment wollte es mir nicht gelingen, Kims Aura vor meinem inneren Auge erscheinen zu lassen. Halb befürchtete ich, dass mir diese Möglichkeit mit der Aufhebung des Fluchs abhandengekommen war. Die Betrachtung einer Aura hatte jedoch nicht die geringste Verbindung zu einem Fluch. Ich musste mich einfach stärker konzentrieren.
Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie Kims Aura letzte Nacht ausgesehen hatte. Braun, erinnerte ich mich. Sie war braun gewesen. Was ich jetzt sah, ließ mich beinahe zusammenzucken. Der Braunton war noch immer da, hatte eine noch kränklichere Farbe angenommen. Die Silberfäden meines Fluchs, die ihre Aura vergangene Nacht noch wie ein Geflecht durchsetzt hatten, waren fort. Stattdessen entdeckte ich einen grauen Schleier, der sich von außen über ihre
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