Die Flüchtlinge
er Taine. Sie stand in der Nähe des Gemüsestandes und hatte ein Baby auf dem Arm. Das Kind war noch sehr klein und hielt sich an ihrer Kapuze fest. Jes schob seinen Stuhl zurück und beobachtete sie mit ausdruckslosem Gesicht.
Sie war – wenn das überhaupt im Bereich des Möglichen lag – noch schöner geworden. Die Mutterschaft hatte ihrem Gesicht die Eckigkeit genommen. Ihre Haltung war nun weniger steif. Ihre Züge zeigten eine strahlende Helligkeit, die sich irgendwie von der Glut ihrer Jugend unterschied. Trotzdem hatten sich ihre Mundwinkel ein wenig verengt. Ihre Fingernägel, das wußte er, waren weitgehend abgebissen. Als er das letztemal auf Aerie gewesen war, hatte sie beide Hände auf seine Brust gelegt. Er hatte sie mitten in der Nacht auf einer der stillen Straßen Havens getroffen; rein zufällig, wie sie sagte. Sie hatten sich lange nicht gesehen. Sie hatte ihn vermißt.
„Jetzt hast du deine Familie“, hatte Jes gesagt. „War das nicht das, was du wolltest?“
Sie lächelte. „Es ist das, von dem ich glaubte, daß ich es wollte.“
Jes erwiderte ihr Lächeln zögernd. Er griff ihren Versuch, ihre Freundschaft zu erneuern, auf.
„Und bist du jetzt vielleicht zu dem Entschluß gekommen, daß du was anderes willst?“ sagte er beiläufig.
„Nichts anderes. Mehr vielleicht, aber nichts anderes.“ Sie legte eine Hand auf seine Brust.
„Ich habe dich vermißt, Jes. Wirklich. Ich denke an dich. Ich denke daran, mit dir zusammen zu sein.“
Es fiel ihm schwer, Luft zu holen. Die Dunkelheit kam ihm plötzlich eng vor, als würde sie Taine und ihn vom Rest der Welt abschneiden – und von der Realität. Seine Hände öffneten und schlossen sich. Er kämpfte gegen den Drang an, sie an sich zu ziehen.
„Jes?“ Sie kam näher. „Ich möchte dich.“
Er schob sie abrupt zurück. „Du bist die Frau Kayman Olets“, erwiderte er heiser. „Stellst du dir so eine Ehe vor?“
„Macht das etwas?“
„Mein Gott, natürlich macht das etwas! Es … es wäre unehrlich, Taine. Es wäre nicht rechtens.“
„Du bist ja immer noch romantisch veranlagt“, sagte sie spöttisch. „Ich hatte eigentlich geglaubt, du seist darüber hinweg. Ich hatte angenommen, du hättest deine romantischen Gefühle zwischen den Beinen irgendeiner Raumhafen-Hure gelassen.“
„Ist es das, was du aus dir selbst zu machen versuchst?“ fragte Jes. „Der Wievielte würde ich denn sein? Der fünfzehnte? Nummer dreißig? Wie viele hast du seit deiner Hochzeit gehabt. Alle Männer von Aerie?“
Sie versetzte ihm einen festen Schlag gegen das Kinn, stieß einen Wutschrei aus und legte ihre Hand dann gegen die Brust. „Du Schwein“, sagte sie mit stiller Bösartigkeit. „Du dreckiger, sündenfreier Hundesohn. Du bist so gottverdammt rein, daß andere Leute dich völlig kalt lassen, nicht wahr?“
„Rein!“
„Ich hoffe nur, daß du eines Tages erwachsen genug wirst, um zu erkennen, daß es auch Zwischentöne gibt, daß du mitbekommst, daß die Dinge nicht nur weiß und schwarz sind, weil du irgendwo zwischen ihnen stehst. Und ich hoffe, daß diese Erkenntnis dich so hart trifft, daß du daran eingehst!“
Sie war in heller Wut davongelaufen und hatte ihn aufgebracht und verwirrt zurückgelassen. Sein Kinn und sein Schwanz hatten gleichermaßen geschmerzt. Erst am Tage von Jasons Begräbnis hatte er sie wiedergesehen. Sie hatte neben ihrem Mann gestanden, mit gesenktem Blick, die perfekte Gattin eines Predigers. Sieh mich jetzt an, hatte Jes ihr zurufen wollen. Sieh dir die Zwischentöne an, Taine. Sieh, wie sehr mich die Erkenntnis getroffen hat, es ist genauso gekommen, wie du es mir prophezeit hast. Aber sie war seinem Blick ausgewichen. Sie hatte seiner Mutter und seinen Schwestern kondoliert und ihn stehenlassen.
Bewegungslos saß Jes da. Seine Finger umklammerten den Krug, bis Taine mit ihrem Kind den Marktplatz verließ und auf der Schulstraße verschwand. Dann lehnte er sich in seinen Stuhl zurück, legte ein paar Münzen Kleingeld auf den Tisch und ging hinaus.
Meya, umgeben von Metern diverser Stoffe, trug lediglich ihr Hemd. Als Jes eintrat, wandte sie sich schnell um und wickelte sich ein.
„Noch fünf Minuten“, sagte sie.
Er ging wieder hinaus und lehnte sich gegen das Verandageländer. Kurz daraufkam Meya zu ihm. Sie schloß ihr Regencape und berührte seinen Arm.
„Möchtest du nach Hause?“ fragte sie.
„Ist mir egal. Auf jeden Fall raus aus Haven.“
Am Ende der Schulstraße drehte
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