Die Fotografin
Wen konnte er sonst gemeint haben?
»Verdammt«, sagte sie ins Leere. Der Patron sah sie fragend an, stand noch einen Augenblick unschlüssig neben ihrem Tisch und ging, als er keine Antwort bekam, zurück in die Küche. Dorothea rührte geistesabwesend in der Kaffeetasse und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Schließlich schlug sie die Frauenzeitschrift wieder auf, blätterte von hinten nach vorne, bis sie die Seite mit den Horoskopen fand. Zwillinge, 2. Dekade. »Liebe: Springen Sie über Ihren Schatten! Sie machen einen anderen Menschen glücklich«, las sie da. Und unter »Erfolg« stand: »Befreien Sie sich aus Ihrer Lähmung! Tun Sie etwas, auch wenn es keine Garantie gibt, daß es das Richtige ist!«
»Ich bleibe noch eine Woche«, sagte sie im Vorübergehen zu Marc Dutoit, während sie hoch in ihr Zimmer ging. Dort packte sie die Reisetasche wieder aus und hängte die Kleider in den Schrank. Dann ging sie hinunter, mit einer Sicherheit, die sie selbst überraschte.
Draußen auf der Terrasse redete die Frau mit den roten Haaren, die Staatsanwältin, auf einen etwa gleichaltrigen Mann mit Bürstenhaarschnitt ein. Dorothea setzte sich ein paar Tische hinter sie. Die beiden schienen sie nicht bemerkt zu haben. Sie bestellte bei Marc Dutoit einen Campari Orange und eine Schachtel Zigaretten und ließ sich Feuer geben. Eigentlich vertrug ihr Magen keinen Orangensaft. Und außerdem rauchte sie nicht, seit mehr als zwanzig Jahren.
Sie inhalierte tief. Der Kick war großartig. Natürlich, redete sie sich ein, wollte sie der Staatsanwältin und ihrem Begleiter nicht zuhören. Aber sie war auch nicht traurig darüber, daß sich das gar nicht vermeiden ließ.
»Ich kann niemanden erreichen.« Die Frau, die ihr Begleiter Karen nannte, klang frustriert.
»Immerhin wissen wir jetzt, was für Waffen im Spiel sind. Eine Fegyver bei Eva Rauch, eine Mauser 0.8 bei Ada Silbermann und eine CZ 27 bei Martin Schmid – genau solche Waffen sind 1978 in der Schweiz geklaut worden. Ein Zusammenhang ist also nicht auszuschließen.«
»Wenn alle Waffen tatsächlich aus einem Raub stammten, der womöglich wirklich einen terroristischen Hintergrund hatte…«
»Alte Genossen liquidieren Verräter. Das könnte es sein.«
»Nach über zwanzig Jahren?«
»Es gibt Menschen, für die ist Rache ihr Leben.« Eine furchtbare Vorstellung, dachte Dorothea.
»Aber wie wahrscheinlich ist es, daß Eva Rauch ebenfalls zur Szene gehörte?«
»Möglich wär’s. Lange Jahre in Paris, verheiratet mit einem gewissen Herrn Sayazadeh, erst nach Jahren wieder in Deutschland – das paßt.«
Dann eine Pause. Und dann fielen sich die beiden ins Wort.
»Aber Ada Silbermann…«
»Und wieso hat Angelika Kämpfer…«
Die Rothaarige hatte einen Stapel von Bierdekkeln vor sich liegen, die sie zu beschriften und dann in irgendeine Ordnung zu bringen schien.
»Wie eine Pariser Fotografin da hineinpaßt, ist mir auch nicht klar.«
»Sie war eine Fotografin , Karen. Sie konnte sehen… «
»Du meinst, sie hat ihn erkannt?«
»Möglich. Daraufhin hat er sie getötet, um nicht aufzufliegen – und aus Rache wurde er jetzt erschossen.« Der Mann fuhr sich durch das kurze weiße Haar. »Er war übrigens beim Gedenkgottesdienst. Ernest Silbermann. Adas Mann.«
Die Staatsanwältin spielte mit den Bierdeckeln. Nach einer Weile sagte sie: »Ich weiß nicht, Paul. Das gefällt mir alles nicht.«
»Andere Möglichkeit: Im Dorf hat man sich mittlerweile mit dem Gedanken angefreundet, daß Persson Selbstmord begangen hat – weil Adas Leiche gefunden wurde und er Entdeckung befürchtete.«
»Selbstmord? Wie der Selbstmord von Eva Rauch?« Sie sprach das Wort »Selbstmord« aus, als ob man es nur mit spitzen Fingern anfassen dürfte.
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Andererseits: Wer am Kofferpacken ist, bringt sich normalerweise nicht um.«
»Er hatte die Koffer gepackt? Kannst du das nicht gleich sagen?«
Die Staatsanwältin lehnte sich weit zurück und schüttelte den Kopf mit den glänzenden Haaren. Sie war eine große Frau mit einer ausgeprägten Vorliebe für üppige Farben. Und, dachte Dorothea, mit einem Hang zur Rechthaberei.
Aber endlich begriff sie, warum Martin nach Deutschland zurückkommen wollte. In Frankreich hätte er eine Anklage wegen Totschlags zu erwarten gehabt. Von wegen »sich ehrlich machen«, dachte sie und fühlte sich seltsamerweise hintergangen.
Die andere beugte sich wieder vor. »Der Mann ist
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