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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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einen flüssigen Ablauf zu begünstigen. Der flüssige Ablauf ist die wesentliche Bedingung des modernen Lebens, sonst erstickt die Stadt. Aber mein Inneres war selbst ziemlich flüssig, vollgestopft mit Psychosomatropika berührte ich kaum meinen Körper, nur meine Augen schwammen über meinem Sitz.
    Ich war weit von zu Hause entfernt. Leute wie ich fahren nicht nach Voracieux-les-Bredins. Die letzte Metrostation im Osten der Stadt ist gleichsam der Dienstboteneingang des Ballungsgebiets. Eine Menge, die es eilig hat, strömt hinein oder hinaus, doch diese Menschen ähneln mir nicht. Sie streifen mich in ununterbrochener Flut, ohne mich zu sehen, ziehen große Gepäckstücke hinter sich her, halten Kinder an der Hand oder schieben Kinderwagen durch das Labyrinth der Bussteige. Sie gehen allein mit eingezogenem Kopf oder in sehr kleinen eng gedrängten Gruppen. Sie ähneln mir nicht. Ich bin auf mein Auge reduziert, denn mein Körper ist wie abwesend, ich bin nicht mehr dem Zwang meines Gewichts unterworfen, bin vom Tastsinn abgetrennt, schwimme in meiner Haut. Wir ähneln einander nicht; wir streifen uns, ohne uns zu sehen.
    Ich hörte, wie sie rings um mich herum redeten, aber ich verstand nicht, was sie sagten. Sie redeten zu laut, unterteilten das Gesagte in zu kurze Segmente, in kurze Ausrufe, die sie auf seltsame Weise betonten; und als ich schließlich merkte, dass sie Französisch sprachen, musste ich feststellen, dass sie die Sprache völlig verwandelt hatten. Als ich auf einem Sitz saß, der mich kaum aufnahm, hörte ich rings um mich herum eine Version meiner eigenen Sprache, die wie ein verzerrtes Echo wirkte. Ich hatte Mühe, dieser Musik zu folgen, aber die Schmerzmittel, die meine Kehle besänftigten, hielten mich zu Gleichgültigkeit an. In was für einer seltsamen Plastikhöhle befand ich mich nur! Ich erkannte nichts wieder.
    Ich war krank, bestimmt ansteckend, noch ganz fiebrig und alles kam mir seltsam vor. Sie kamen und gingen, und ich verstand nichts. Sie ähnelten mir nicht. All diese Leute, die an mir vorbeigingen, ähnelten einander, mir aber nicht. In dem Viertel, in dem ich lebe, stelle ich das Gegenteil fest: Die Leute, denen ich begegne, ähneln mir, aber sie ähneln einander nicht. Im Zentrum, wo die Stadt ihren Namen verdient, wo man ganz sicher ist, man selbst zu sein, hat der Einzelmensch Vorrang vor der Gruppe, ich erkenne jeden wieder, jeder ist er selbst; aber hier am Rand fällt mir die Gruppe ins Auge, und ich verwechsele all ihre Mitglieder. Wir ordnen Gruppen immer ein, das ist ein anthropologisches Bedürfnis. Die vererbte Gesellschaftsschicht sieht man jemandem schon von fern an, sie drückt sich im Körper aus, lässt sich am Gesicht ablesen. Die Ähnlichkeit ist eine Zugehörigkeit, und meine Zugehörigkeit ist nicht hier. Ich schwimme in meinem Schalensitz und warte auf den Bus, meine Füße berühren den Boden nicht, ich sehe nur mit meinen schwimmenden Augen und weiß nichts mehr über meinen Körper. Das Denken ohne Einbindung des Körpers beschäftigt sich nur mit Ähnlichkeiten.
    Sie erkannten sich wieder, grüßten sich, aber diesen Gruß kannte ich nicht. Die Jungen schlugen untereinander die Handflächen gegeneinander und danach die Fäuste in einer Abfolge, bei der ich mich fragte, wie sie die nur behalten konnten. Ältere Männer ergriffen gegenseitig die Hand mit übertriebener Würde, zogen dann mit dem anderen Arm ihr Gegenüber an sich und legten Wange an Wange, ohne sie mit den Lippen zu berühren. Wenn sie sich nicht so überschwänglich begrüßten, legten sie die Hand, die sie gerade dem anderen gegeben hatten, auf ihr Herz, und auch wenn diese Geste nur angedeutet war, rief sie starke Rührung in mir hervor. Zapplige junge Leute warteten auf die Busse, bildeten rempelnde Gruppen, trippelten unruhig am Rand des Kreises, den sie bildeten, blickten von der Gruppe weg, wandten sich ihr wieder zu, traten dabei von einem Bein aufs andere und schoben die Schultern hin und her. Junge Frauen gingen in gewissem Abstand an ihnen vorbei und grüßten niemanden. Und wenn eine es tat, wenn ein fünfzehnjähriges Mädchen einen fünfzehnjährigen Jungen grüßte, der aus seiner fluktuierenden Gruppe herauskam, tat sie es auf eine Weise, die mich völlig verblüffte, während ich auf meinem verblichenen Schalensitz schwamm und kaum den Boden berührte: Sie schüttelte ihm die Hand wie eine Geschäftsfrau mit weit ausgestrecktem Arm, wobei ihr Körper während des

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