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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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bedeckenden Schnee beruhigte Voracieux. In der Stille waren die zehntausend Einwohner nur noch Wellenbewegungen einer einzigen weißen Form. Es gab keine Gegenstände mehr, sie waren nur eine Illusion der weißen Schneedecke, und wir in unseren dunklen Mänteln, die einzige Bewegung, wir waren zwei Pinsel, die durch die Leere strichen und zwei Spuren aus zertretenem Schnee hinterließen.
    Als wir an seinem Vorgarten ankamen, hörte es auf zu schneien. Die Flocken gingen nicht mehr so dicht nieder, schwebten mehr herab als dass sie fielen, und die letzten wurden, ohne dass wir es merkten, von der violetten Luft absorbiert. Es war vorbei.
    Salagnon öffnete das quietschende Gartentor und betrachtete die Fläche vor ihm, die die Sträucher, die Umrandungen, den kleinen Rasen und ein paar nicht zu erkennende Gegenstände überzog. »Siehst du, genau in dem Moment, wo ich auf der Schwelle zu meinem Garten ankomme, hört es auf zu schneien, und in diesem Moment ist die Schneedecke perfekt; so schön wird sie nie wieder sein. Willst du ein bisschen mit mir draußen bleiben?«
    Wir verharrten stumm und betrachteten das Nichts, den mit ein bisschen Schnee überzogenen Vorgarten eines Einfamilienhauses in einem Vorort von Lyon. Das Licht der Straßenlaternen verlieh ihm violette Spiegelungen. »Ich wünschte mir, das würde lange dauern, aber es hält nicht lange an. Siehst du diese Perfektion? Sie ist schon fast vorbei. Sobald es nicht mehr schneit, beginnt der Schnee in sich zusammenzusinken, einzufallen, zu schmelzen, und alles verschwindet. Das Wunder der Präsenz dauert nur so lange, wie sie im Entstehen begriffen ist. Das ist furchtbar, aber man muss die Präsenz genießen und darf nichts von ihr erwarten.«
    Wir gingen über die Gartenwege, unsere Füße sanken leicht in den Pulverschnee ein, unsere Schritte wurden von einem köstlichen Geräusch begleitet, das sowohl an das Knirschen von Sand als auch an das Zerknautschen von Daunen in einem dicken Federbett erinnert. »Alles ist perfekt und einfach. Sieh dir an, in was für einer schönen Rundung die Dächer enden, sieh dir an, wie die Beete mit den Wegen verschmelzen, sieh dir an, wie sich die Wäscheleine abhebt: jetzt sieht man sie.«
    Zwischen zwei Pfählen hatte sich auf der Leine Schnee in einem schmalen, hohen Streifen in einem Stück abgelagert, fein ausbalanciert. Er folgte der Krümmung in einem Bogen. »Der Schnee zeichnet unwillkürlich Striche, wie ich sie gern gezeichnet hätte. Er versteht es, ohne etwas davon zu verstehen, der Leine perfekt zu folgen, den Schwung der Krümmung hervorzuheben, ohne ihn zu übertreiben, er zeigt diese Leine besser als sie sich selbst zeigen kann. Wenn ich Schnee auf eine Leine hätte legen wollen, wäre ich nicht imstande gewesen, es ebenso schön zu tun. Ich bin nicht imstande, mit meinem Willen das zu erschaffen, was der Schnee unbewusst erreicht. Der Schnee zeichnet Wäscheleinen in die Luft, weil er mit der Leine nichts am Hut hat. Er fällt vom Himmel, ganz einfachen Regeln der Schwerkraft, des Windes und der Luftfeuchtigkeit folgend, und zeichnet Krümmungen, die ich trotz meiner Kenntnisse der Malerei nicht zustande bringe. Ich bin neidisch auf den Schnee; so würde ich gern malen.«
    Die Gartenmöbel, ein runder Tisch und zwei farbig gestrichene Metallstühle, waren sehr elegant mit exakt bemessenen Kissen bedeckt, man hätte die allergrößte Mühe, wollte man sie mit Hilfe eines Zentimetermaßes derart genau zuschneiden und nähen. Diese schon ziemlich alten Möbel, die Rostspuren unter der abgeblätterten Farbe aufwiesen, waren unter dem Schnee zu Meisterwerken der Harmonie geworden. »Wenn ich diese Linienführung, diese Perfektion unwillkürlich erreichen könnte, wäre ich ein großer Maler. Dann würde ich Frieden finden, würde das malen, was mich umgibt und könnte in Frieden sterben.«
    Er ging auf den mit einem perfekt proportionierten Daunenkissen bedeckten Tisch zu, nur durch das Zusammenwirken natürlicher Mächte war es geformt worden. »Sieh nur, wie gut die Welt gestaltet ist, wenn man sie gewähren lässt. Aber sieh auch, wie empfindlich sie ist.«
    Er nahm eine Handvoll Schnee, ballte ihn zusammen und warf ihn nach mir. Ich beugte mich instinktiv nieder, und zwar eher um auf seine Geste zu reagieren, als um dem Geschoss zu entweichen, und als ich mich wieder aufrichtete, traf mich zu meiner Überraschung der zweite Schneeball mitten auf die Stirn. Meine Brauen waren voller Pulverschnee, der

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