Die Frau am Tor (German Edition)
dass es sich um die “Begleichung einer offenen Rechnung” gehandelt habe, wie der Redakteur es in etwas verkrampftem Bemühen um eine milieugerechte Formulierung ausgedrückt hatte. Denn Oliver R. habe im Spielermilieu und überhaupt in zwielichtigen Kreisen verkehrt. Der Umstand, dass der oder die Täter konsequent alle persönlichen Gegenstände beseitigt und die Leiche im Wald versteckt hätten, nähre die Vermutung, dass man es mit Profis zu tun habe. Zurzeit konzentrierten sich die Ermittlungen auf den engeren wie auch weiteren Bekanntenkreis Rensings.
Er ließ die Zeitung sinken und merkte, wie sich sein Atem und sein Pulsschlag beschleunigten. Doch nachdem er einige Male tief durchgeatmet hatte, wurde er etwas ruhiger. Man verdächtigte also Profis. Das war geradezu lächerlich – genauer: es wäre lächerlich gewesen, wenn es sich nicht um eine solch bitterernste Angelegenheit gehandelt hätte. Erneut kam ihm der ganze Aberwitz der Situation zum Bewusstsein, und er fragte sich, wie er es bisher eigentlich zu Wege gebracht hatte, all das in den zurückliegenden Tagen zumindest zeitweise immer wieder zu verdrängen.
Nach Lage der Dinge war damit zu rechnen, dass man irgendwann auch Julia Gerlach vernehmen würde, da sie mit dem Toten ja bekannt gewesen war. Er musste sie warnen und ihr einschärfen, wie sie sich gegenüber der Polizei zu verhalten hätte, ihr zum hundertsten Mal zureden, die Ruhe zu bewahren und nichts Falsches zu sagen. Am besten rief er sie jetzt sofort an.
Erst jetzt fiel ihm ein, dass er gar nicht ihre Telefonnummer hatte. Im Arbeitszimmer schaltete er seinen Laptop an und begann zu suchen. Eine Julia und einen Frank Gerlach – Frank, so hieß er doch, ja - gab es jeweils mehrfach, jedoch nur eine Nummer in der Kolbestraße, unter der F. u. J. Gerlach mit einer als privat ausgewiesenen Festnetznummer gemeldet waren. Nebenbei fand er über Google heraus, dass Julias Mann offenkundig bei einer großen, international renommierten Werbeagentur beschäftigt war. Sein Name tauchte in allen möglichen Zusammenhängen im Netz auf, auch mit diversen geschäftlichen Nummern und Emailadressen sowie einmal in Verbindung eines geschäftlichen Anschlusses mit der gemeinsamen Privatnummer.
Er tippte die Zahlen in den Festnetzapparat, aber der Ruf ging durch, ohne dass abgenommen wurde. Eine halbe Stunde darauf versuchte er es erneut, wieder ohne Erfolg. Um seine wachsende Unruhe zu bekämpfen, stieg er in den Wagen und fuhr in die Kolbestraße. Am Haus verlangsamte er das Tempo auf Schrittgeschwindigkeit. Zu sehen war dort nichts und das Garagentor war geschlossen. Er fuhr zurück und wählte in viertelstündigen Abständen erneut mehrmals ihre Nummer, aber sie meldete sich nicht.
Es war kurz vor zwei, als sein Telefon klingelte.
“ Hier ist Julia”, sagte sie. “Wir müssen uns sofort sehen. Es ist sehr, sehr wichtig. Du musst....Sie müssen herkommen, jetzt gleich, sofort.”
Ihre Stimme klang sonderbar – fast tonlos, müde, aber vor allem irgendwie verwaschen und für ihre Verhältnisse unnatürlich ruhig.
Er machte sich umgehend auf, parkte aber den Wagen vorsichtshalber ein paar hundert Meter von ihrem Haus entfernt und legte den Rest des Weges im Laufschritt zurück. Sie empfing ihn an der Tür und bot einen Anblick, den er nicht erwartet hatte. Sie trug ein dunklen Hosenanzug im Business-Stil und eine blütenweiße, hochgeschlossene Bluse, dazu das Haar offen. Sie sah aus, als komme sie soeben von einer Konferenz oder einem Geschäftstermin. Ihr Gesicht war blass, ihr Blick wirkte fahrig und erschöpft, und als sie vor ihm her in das Zimmer mit den Korbsesseln ging, kam es ihm vor, als koste es sie Mühe, sich auf den Beinen zu halten.
“ Ich war bei der Polizei”, sagte sie, mit derselben Stimme wie zuvor am Telefon, und er spürte sofort ein unangenehmes, dumpfes Spannen in der Zwerchfellgegend.
“ Und?”, fragte er.
“ Sie hatten angerufen, heute morgen. Zum Glück ist mein Mann ja wieder mal nicht da, sondern auf Dienstreise. Sie fragten mich, ob es mir lieber sei, wenn sie bei mir vorbei kämen oder ob ich zu ihnen kommen wolle, aber möglichst bald. Mir war das lieber, hinzugehen, zu diesem Kommissariat, ich meine, wenn sie erstmal im Haus gewesen wären......Aber sie waren sehr höflich und versicherten mir, es gehe lediglich um eine Aussage, eine Zeugenaussage. Es sei mehr so eine Formalität. Sie vernehmen offenbar jeden, der irgendwie und irgendwann mit ihm
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