Die Frau an Seiner Seite
sie sich doch einmal schwachem Licht aussetzte, trug sie selbst zur Sommerzeit meist langärmelige Kleidung – kein Millimeter ihrer Haut durfte mit Licht in Berührung kommen. Wenn es doch einmal aus Versehen geschah, spürte sie inneres Brennen. Mit starker Sonnenbrille und starkem Make-up unternahm sie nächtliche Spaziergänge. Einige Male lud sie mich dazu ein. Schnellen Schrittes bewegte sie sich in zünftiger Wanderkluft durch die Nacht. Dabei schilderte sie mir Erlebnisse, die ich nie vergessen werde. Zum wiederholten Male berichtete sie mir bei diesen Spaziergängen über ihre Kindheit in Leipzig und über die Dramatik ihrer Flucht vor den Soldaten der sowjetischen Armee im Jahr 1945. Traumatischen Erfahrungen, die sie nie verarbeitet hatte. Damals gab es keine Hilfe, kannte man noch keine Traumatherapeuten, die Betroffene bei der Aufarbeitung unterstützt hätten. Völlig alleingelassen musste Hannelore als junges Mädchen mit Panikattacken und Weinkrämpfen zurechtkommen. Auf meine Frage, wie es zu diesen schrecklichen seelischen Verletzungen gekommen sei, beschrieb sie die schlimmsten Momente ihres Lebens, die Stunden und Tage auf der Flucht von Döbeln nach Leipzig. Das Wort Vergewaltigung kam ihr nicht über die Lippen. Erst auf meine konkrete Frage, ob sie wie tausend andere Mädchen, Frauen und Greisinnen vergewaltigt worden sei, antwortete sie nach längerer Pause mit »Ja«. Wochen später sprachen wir erneut über die sexuellen Übergriffe, denen sie während der Flucht ausgesetzt war. Bei vielen Fragen wich sie aus, unterstrich aber erneut, wie sehr sie mit den Folgen dieser körperlichen Gewalterfahrung alleingelassen worden war. Nicht einmal bei ihrer Mutter, so klagte sie mir gegenüber, konnte sie liebevolle Zuwendung finden. Was blieb, war der Rückzug in sich selbst, eine Form der Einsamkeit, an der sie seit Jahrzehnten litt. Hinzu kam das faktische Alleinsein. In all den Jahren ihrer Ehe hatte sie sich mit der häufigen Abwesenheit ihres Mannes arrangieren müssen. Daran hatte sich selbst jetzt so gut wie nichts geändert. Ihr Mann flog montags nach Berlin und kam meist freitags zurück. Die Spendenaffäre nahm ihn voll in Anspruch. In mehreren vertrauten Kreisen bereitete er sich auf seine Vernehmungen im parlamentarischen Untersuchungsausschuss vor. Er konnte sich auf sein Berliner Büro verlassen und hielt auch enge Kontakte zu ehemaligen Ministern, Staatsministern und Staatssekretären, deren Rat er besonders schätzte. Ganz wichtig für ihn wurden jetzt Rechtsanwälte, mit denen er ständig telefonierte und sich eng abstimmte. Im Mittelpunkt der Bemühungen stand dabei, eine Vorbestrafung des Altkanzlers zu verhindern. Das gelang denn auch mit riesigem Kraftaufwand – die Zahlung des bereits erwähnten beträchtlichen Bußgelds war die einzige »Strafe«. Für Helmut Kohl gab es also genügend gute Gründe, seine Zeit hauptsächlich in Berlin zuzubringen.
Die beiden Söhne arbeiteten und lebten nicht mehr in der Nähe ihres Elternhauses. Persönliche Besuche bei der kranken Mutter in Ludwigshafen waren nicht immer möglich. Kontakte erfolgten aber regelmäßig telefonisch, bei denen sich Hannelore generell zurücknahm und Weinerlichkeit vermied, aber die Söhne wussten auch so, wie es der Mutter ging. In dieser äußerst schwierigen Lebensphase gewann ihr Freundeskreis an Bedeutung. Auch wenn Hannelore den Freundinnen gegenüber die Dramatik der Erkrankung lange heruntergespielt hatte, war diesen längst klar, wie verzweifelt sie war und wie sie von Woche zu Woche mehr litt.
Hannelores Freundeskreis bestand aus Frauen, die, was Herkunft, Bildung und Beruf anging, unterschiedlicher nicht sein konnten. Seit Jahren zählten sie zu ihren verlässlichsten Stützen. Schon früh hatte Hannelore lernen müssen, mit Einsamkeit zurechtzukommen, Mittel und Wege zu finden, um ihr Alleinsein zumindest zu lindern. Das gelang ihr, indem sie alte Freundschaften wieder aufleben ließ, neue initiierte. So war es, wie schon erwähnt, Hannelore Kohl gewesen, die Klassentreffen vortrefflich organisierte, egal ob im Kanzlerbungalow oder an anderen Orten. Zum engmaschigen Netz ihrer Freundinnen gehörten zwei Mitabiturientinnen, mit denen sie seit der Gymnasialzeit eng verbunden war, auch wenn es Phasen von Unterbrechungen gab. Annegret Helling ist eine der beiden. Die Eltern der Textilingenieurin und Mutter von drei Kindern stammten aus Sachsen und waren bei Hannelore allein schon wegen ihres souverän
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