Die Frau an Seiner Seite
Fernseher einzuschalten. Helmut Kohl war am Vormittag zu einem von langer Hand vorbereiteten politisch wichtigen und zugleich schwierigen Besuch nach Warschau geflogen. Während er an einem Abendessen teilnahm, wurde in Ost-Berlin Geschichte geschrieben. Vor der versammelten Presse verlas SED-Chef Günter Schabowski eine Erklärung, nach der die Bürger der DDR Reisefreiheit erhalten sollten. Es folgte der legendäre Satz: »Das trifft nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.« Sofort strömten Zehntausende zu den Grenzübergängen, die um 22 Uhr geöffnet wurden. In Berlin tanzten die Menschen vor dem Brandenburger Tor und kletterten auf die Mauer. Hannelore saß vor dem Fernseher, traute ihren Augen nicht und weinte vor Freude. Ihr Telefon stand nach den ersten Meldungen über die Maueröffnung nicht mehr still. Nur der Kontakt zu ihrem Mann in Polen kam nicht zustande, was sie sehr bedauerte. Zu gerne hätte sie in dieser historischen Stunde ihre überschwängliche Freude mit ihm geteilt.
Kohl hatte die Nachricht von den dramatischen Ereignissen über das Kanzleramt erhalten. Am nächsten Tag unterbrach er seine Polenreise und machte sich auf den Weg nach Berlin. Hannelore, die immer wieder versucht hatte, ihn telefonisch zu erreichen, erfuhr von seinem Büro lediglich, dass er seine Reisepläne geändert habe. Am Abend des 10. November 1989 sah sie im Fernsehen eine Liveübertragung aus Berlin. Vom Balkon des Schöneberger Rathauses sprachen Helmut Kohl, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher und Walter Momper, regierender Bürgermeister von West-Berlin. Als der Kanzler zu seiner Rede ansetzte, wurde er ausgebuht und ausgepfiffen. Die Störungen waren derart massiv, dass sie ihn kaum verstand. Immer wieder versuchten Brandt und Momper die aufgebrachte Menge zu beruhigen. Hannelore war sprachlos und erschüttert über die Feindseligkeit, die ihrem Mann in diesem Augenblick entgegenschlug. Diese Fernsehbilder konnte sie ihre Leben lang nie mehr vergessen.
Vierzehn Tage nach Schabowskis »Versprecher« wurden im Bonner Kanzlerbungalow die Grundlagen des »Zehn-Punkte-Programm zur deutschen Einheit« diskutiert, Horst Teltschik sollte einen ersten Entwurf ausarbeiten. In der Nacht vom 27. auf den 28. November 1989 diktierte Helmut Kohl seiner Frau die Endfassung in deren alte Reiseschreibmaschine. Inhaltlich ging es um einen Weg von der »Vertragsgemeinschaft« der beiden deutschen Staaten über die »Konföderation« bis zum Ziel »Föderation«.
Am folgenden Tag wollte der Kanzler das »Zehn-Punkte-Programm«, über das bis dahin strengstes Stillschweigen verhängt worden war, während einer Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag vortragen. Die Reaktionen waren unterschiedlich, was Kohl aber nicht aus der Ruhe brachte. Entscheidend für den Kanzler war, sich die Initiative in Sachen Deutsche Einheit nicht mehr aus der Hand nehmen zu lassen.
Hannelores Anteil an diesem Papier war nicht nur, es getippt zu haben. Sie nutzte ihr im Vergleich zu ihrem Mann bedeutend besser ausgeprägtes Sprachgefühl und sorgte für einen lesbaren, flüssigen Text, der in die Geschichte der Bonner Republik einging.
In den folgenden Wochen und Monaten stand sie ihrem Mann in nie gekannter Häufigkeit zur Seite. Sie erlebte seinen Stress nach Marathonsitzungen, unendlichen Telefonaten mit den Regierungschefs der deutschen Nachbarländer. In dieser Ausnahmesituation fühlte sie sich besonders in die Pflicht genommen und leistete ihrem Mann jedwede Unterstützung. Sie spürte, dass Politik nun absoluten Vorrang hatte und das Privatleben völlig zweitrangig geworden war. Hannelore ließ sich von ihrem Mann umfassend über die Umwälzungen in der DDR und die Umbrüche in anderen osteuropäischen Staaten informieren. Der Flüchtlingsstrom und seine Bewältigung waren ein Dauerthema. Als Hannelore ihren Mann am 19. Dezember 1989 im Fernsehen sah, wie er vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche umgeben von einem wogenden Meer schwarz-rot-goldener Fahnen eine vielbeachtete Rede hielt, empfand sie ungeheuren Stolz. Sie sah, wie groß die Begeisterung der Menschen war, als ihr Mann von freien Wahlen sprach, die alsbald in der DDR abgehalten werden sollten. Die Fernsehbilder zeigten ihren Mann wie einen Heilsbringer, und der aufbrandende Beifall wollte nicht enden. Hannelore war ergriffen wie noch nie bei einer Ansprache ihres Mannes. Diesmal wäre sie gerne an seiner Seite gewesen, diesmal hätte sie gerne in die Augen der
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