Die Frau aus Alexandria
scharfer Stimme.
»Wenn es aber doch wahr ist! Manchmal führt er sich auf wie ein Dreijähriger!«, begehrte das Hausmädchen mit geröteten Wangen auf. »Und der arme Martin lässt sich das alles ohne ein Wort der Klage gefallen, räumt hinter ihm auf, hört sich an, wie er über alles Mögliche jammert und flennt oder einfach dasitzt wie ein Häufchen Elend. Am besten –«
»Am besten sollten Sie den Mund halt’n, sonst sitz’n Se selber bald da wie ’n Häufchen Elend!«, fuhr Mrs Culpepper sie an. »Schon möglich, dass Se gut ausseh’n und red’n wie ’ne feine Dame, aber wenn der Gnä’ge hört, was Se zu Fremd’n über Mr Stephen sag’n, steh’n Se in null Komma nix mit Ihr’m Koffer auf der Straße, un zwar ohne Zeugnis, so wahr ich hier sitz!« In ihrer Stimme lag eine unüberhörbare Dringlichkeit, und ihre schwarzen Augen blitzten. Gracie war sicher, dass sie weder aus Wut noch aus Abneigung so sprach, sondern ganz im Gegenteil freundschaftliche Gefühle für Bella hegte.
Mit wehenden Röcken setzte sich das Hausmädchen auf den anderen Küchenstuhl. »So etwas gehört sich einfach nicht!«, sagte sie aufgebracht. »Martin hat sich mehr gefallen lassen, als ein Mensch ertragen kann! Und wenn man ihn auf die Straße gesetzt hat ...«
»Stimmt doch gar nich. Was verzapf’n Se dummes Stück da für ’n Unsinn?« Ein junger Lakai mit einer kecken Haartolle über der Stirn trat ein. Gracie sah, dass seine Hose ziemlich lose an ihm herunterhing, und vermutete, dass er erst vor kurzem vom Stiefelputzer in seine neue Position aufgestiegen war.
»Und woher haben Sie diese Weisheit, Clarence Smith?«, fuhr Bella ihn an.
»Ich krieg Sach’n mit, die keiner von euch sieht!«, gab er zurück. »Wenn der mal richtig in Fahrt is, wird außer Martin keiner mit’m fertig, und wenn er seine verrückt’n fünf Minut’n kriegt, geh’n alle in Deckung. Ich jed’nfalls würd ’m da um nix auf der Welt inne Quere komm’n woll’n! Sogar Mr Lyman hat dann Schiss vor ihm ... un Mrs Somerton. Un die hat sons’ so schnell vor nix Bange! Im Kampf geg’n den Drach’n hätt ich nie auf’n heilig’n Georg gesetzt, aber hundertprozentig auf sie!«
»Kümmer dich um deine eig’nen Angeleg’nheit’n, Clarence, wenn du nich wills, dass ich Mr Lyman sag, was für Frechheit’n du dir rausnimms!«, sagte Mrs Culpepper drohend. »Wenn der dir auf die Schliche kommt, kanns du heute Abend in der Spülküche ess’n und darfs froh sein, wenn du ’n Schmalzbrot kriegs!«
»Stimmt aber doch!«, beharrte Clarence empört.
»Das hat gar nix damit zu tun, Dummkopf!«, wies sie ihn in die Schranken. »Man könnte meinen, du würdest von Tag zu Tag dümmer! Los, an die Arbeit, trag Bella die Kohl’n rein!«
»Ja, Mrs Culpepper«, sagte er gehorsam. Vielleicht hatte er gemerkt, dass in ihrer Stimme eher Besorgnis als Tadel lag.
Einen Augenblick lang überlegte Gracie, dass es schön sein müsste, ein, zwei Wochen in einem großen Haus zu arbeiten. Natürlich waren die zu erledigenden Aufgaben nicht annähernd so wichtig wie das, was sie im Hause Pitt tat. Sie sah zu, wie Clarence den Raum verließ, um zu tun, was man ihm aufgetragen hatte. Sie nahm ihre Teetasse und trank sie aus.
»Tut mir Leid, Kleine, aber wir könn’n dir nich helf’n«, sagte Mrs Culpepper kopfschüttelnd und füllte endlich den Teig in die Backform. »Ich muss mich jetz um das Teegebäck für heut Nachmittag kümmern. Man weiß nie, wer kommt, un da muss auf jed’n Fall was auf’m Tisch steh’n. Dottie! Komm und putz das Gemüse.«
Gracie erhob sich, um zu gehen, trug aber vorher noch ihre leere Tasse zum Abstellbrett neben dem Waschbecken. »Vielen Dank«, sagte sie aufrichtig. »Ich muss einfach zuseh’n, dass ich ’n find, auch wenn ich nich weiß, wo.«
Dottie kam aus dem Wirtschaftsraum zurück und wischte sich die Hände an einem Schürzenzipfel ab. »Er war mal bei ’nem Mr Sandeman irgendwo im East End«, sagte sie. »Vielleicht weiß der was?«
Gracie setzte die Tasse sorgfältig nieder, weil sie merkte, dass ihre Hände zitterten. »Sandeman?«, wiederholte sie. »Wer is das?«
Niedergeschlagen musste Dottie gestehen: »Keine Ahnung. Tut mir Leid.«
Gracie schluckte ihre Enttäuschung herunter. »Macht nix, vielleicht weiß es jemand anders. Danke, Mrs Culpepper.«
Die Köchin schüttelte den Kopf. »Tut mir wirklich Leid, armes Ding. Vielleicht kommt se ja wieder auf die Beine, man weiß nie.«
»Ja«,
Weitere Kostenlose Bücher