Die Frau aus Alexandria
Züge weicher. »Sieh mal, Kleine, ich begreif ja, dass du durcheinander bis, un es is auch schlimm, wenn’s ei’m so dreckig geht un man nix mach’n kann. Man sollte kein’ Hund alleine ster’m lass’n, aber Gott is mein Zeuge, ich weiß nich, wo der Martin is. Das is die reine Wahrheit. Er is ’n or’ntlicher Junge, un ich glaub nich, dass er je mal ’nem Menschen Ärger gemacht hat.«
Der Gedanke an Tilda und die Angst in ihr trieben Gracie die Tränen in die Augen. Immerhin vermisste die Schwester ihn schon seit mehreren Tagen. Warum war weder ein Brief noch eine sonstige Nachricht gekommen? »Was für ’n Mensch is dieser Mr Stephen? Würd der jemand wegschick’n, wenn der nix angestellt hat?«
Mrs Culpepper wischte sich die Hände an der Schürze ab, ließ Teig und Backform stehen und goss sich eine Tasse Tee ein. »Gütiger Gott«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Mal so, mal so, der Arme. Aber so ’nen schlimmen Tag könnt der gar nich ha’m, dass er den Martin weggeschickt hätt. Immerhin is er der Einzige, der mit ’m zurechtkommt, wenn’s ’m nich gut geht.«
Trotz aller Bemühung, sich nichts anmerken zu lassen, zuckte es in Gracies Gesicht. Was sie da hörte, war ihr zwar nicht völlig neu, aber es beunruhigte sie, weil sie nicht verstand, worum es dabei ging. Sie hob den Blick zu Mrs Culpepper und zwinkerte einige Male, um sich nicht durch ihren Gesichtsausdruck zu verraten. »Sie meinen, wenn er krank is?«
Die Köchin fuhr kurz auf, sagte aber nichts.
Zwar fürchtete Gracie, einen schweren Fehler begangen zu haben, unternahm aber klugerweise keinen Versuch, ihn auszuwetzen. Stattdessen wartete sie wortlos, dass die Köchin weitersprach.
»So kann man das sag’n«, erklärte diese schließlich und hob die Tasse, die sie die ganze Zeit in der Luft gehalten hatte, an die Lippen. »Un ich sag es auch nich anders!« Das war eine unüberhörbare Warnung.
Gracie begriff sogleich. Das Wort »krank« war eine Beschönigung für etwas weit Schlimmeres. Vielleicht Volltrunkenheit? Manche Männer sanken, wenn sie zu viel getrunken hatten, einfach in sich zusammen, oder es war ihnen entsetzlich schlecht, andere aber wurden in diesem Zustand streitsüchtig, begannen sich zu prügeln, rissen Leuten die Kleider vom Leibe oder belästigten sie auf andere Weise. Was Gracie da gehört hatte, klang so, als gehöre Stephen Garrick zu dieser Sorte.
»Natürlich nich«, sagte Gracie und gab sich schüchtern. »Niemand tut das. Das gehört sich für unsereins nich.«
»Es is nich so, wie wenn ich es nich manchmal am liebsten tun würde!«, fügte Mrs Culpepper kampflustig hinzu, sagte aber nichts weiter, weil gerade das Hausmädchen in die Küche kam. Gracie fand sie außerordentlich hübsch, und das nicht nur wegen ihrer
frisch gewaschenen und gestärkten weißen Schürze, die mit Spitzen besetzt war. »Se woll’n doch wohl nich schon das Mittagessen?« , fragte die Köchin erstaunt. »Mein Gott, wo is bloß die Zeit geblie’m? Ich bin noch lange nich fertig.«
»Aber nein«, beruhigte Bella sie. »Sie haben genug Zeit.« Sie warf Gracie einen neugierigen Blick zu. Vermutlich hatte sie die letzten Worte der Unterhaltung mitbekommen. »Ich hätte auch nichts gegen eine Tasse Tee, wenn er schön heiß ist«, fügte sie hinzu.
»Das is Gracie.« Mrs Culpepper schien der Name plötzlich wieder eingefallen zu sein. »Sie is hier, weil die Schwester vom Martin ’ne Freundin von ihr is. Die Ärmste hat rheuma’sches Fieber und liegt im Ster’m. Gracie is gekomm’n, weil se dem Martin Bescheid sag’n will.«
Betrübt schüttelte Bella den Kopf. »Wir würden Ihnen gern helfen, wissen aber nicht, wo er sich aufhält«, sagte sie offen heraus. »Normalerweise geht Mr Stephen im Laufe des Vormittags aus, und jeder im Haus weiß das schon Tage im Voraus. Aber diesmal war es anders. Er ist ... er ist einfach nicht da!«
Gracie war nicht bereit, sich geschlagen zu geben, bevor sie alle Mittel versucht hatte. »Mrs Culpepper war sehr freundlich«, sagte sie voll Wärme. »Sie hat mir gesagt, dass der junge Mr Garrick richtig auf Martin angewies’n is un er ’n deshalb auch nich weg’n ’ner Laune weggeschickt hätt.«
Bellas Gesicht verzog sich vor Zorn. »Manchmal war es mit ihm wirklich schlimm. Meine Mutter hätte mir mit dem Pantoffel das Hinterteil versohlt, wenn ich mich so hätte gehen lassen. Er hat um sich getreten, Leute angeschrien und –«
»Bella!«, mahnte Mrs Culpepper mit
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