Die Frau aus Alexandria
dieser
Diplomat aus vornehmer Familie. Er beherrschte seinen Zorn nur mit Mühe.
»Außer Lovat ist Saville Ryerson bisher der einzige Mensch, von dem wir wissen, dass er in Verbindung mit ihr steht«, sagte er kälter, als er beabsichtigt hatte. »Offensichtlich hat Lovat sie glühend verehrt, als er vor fünfzehn Jahren hier in Alexandria stationiert war. Ob die Beziehung je darüber hinausging, wissen wir nicht.«
Trenchard faltete seelenruhig die Hände. »Und das wollen Sie in Erfahrung bringen?«
»Das und anderes, ja.«
»Vermutlich lautet Ihr Auftrag, Ryerson von jedem Verdacht reinzuwaschen?«
Trenchard klar zu machen, dass ihn das nichts anging, wäre sinnlos gewesen; dann hätte er Pitt womöglich für einen noch größeren Dummkopf gehalten.
»Möglichst«, bestätigte Pitt.
Sein kaum wahrnehmbares Zögern entging Trenchard nicht, was sich in seinem Gesichtsausdruck spiegelte.
»Wir müssen unbedingt feststellen, wie sich die Sache in Wirklichkeit abgespielt hat«, fuhr Pitt rasch fort. »Welchen Grund hätte die Frau haben können, Lovat zu töten? Was wollte sie überhaupt in London? Hat sie Ryerson durch Zufall kennen gelernt oder gezielt ausgewählt?« Noch während er das sagte, fiel ihm auf, wie unwahrscheinlich es war, dass sich eine schöne Ägypterin zufällig ausgerechnet in den Minister verliebte, der für die Baumwollausfuhr seines Landes zuständig war. Andererseits kannte die Geschichte Belege für eine Fülle von unwahrscheinlich wirkenden Zufallsbegegnungen, die ihren Verlauf unwiderruflich verändert hatten.
»Aha ...«, sagte Trenchard mit vorgeschobener Unterlippe. »Damit bekommt die Sache schon ein anderes Gesicht. Warum vermutet man überhaupt, dass sie diesen Lovat erschossen hat?« Seine Augen weiteten sich ein wenig. »Und wer ist das?«
»Ein unbedeutendes Rädchen im Getriebe des diplomatischen Dienstes«, sagte Pitt. Er beschloss, die Möglichkeit einer Erpressung
erst einmal mit Stillschweigen zu übergehen. »Ryerson tut alles, um sie vor einer Mordanklage zu bewahren, und scheint nicht einmal vor der Gefahr zurückzuschrecken, dass er damit seinen eigenen Ruf aufs Spiel setzt. Allem Anschein nach geht seine Liebe zu dieser Frau so weit, dass sie nicht einmal dann zu befürchten brauchte, er könnte ihr seine Gunst entziehen, wenn dieser Lovat ihr früherer Geliebter gewesen wäre und sie deshalb belästigt hätte.«
»Ich verstehe«, sagte Trenchard leise. »Sieht ganz so aus, als ob etwas nicht so ist, wie es auf den ersten Blick aussieht. Ganz offensichtlich gibt es da viele Möglichkeiten. Sehr vernünftig von Ihnen, herzukommen, um sich an Ort und Stelle ein Bild zu machen. Offen gestanden habe ich mich anfangs gefragt, warum Narraway nicht einfach jemanden vom Konsulat gebeten hat, sich der Sache anzunehmen; ich begreife jetzt aber, dass hier ein Kriminalbeamter vonnöten ist. Die Lösung könnte komplex sein, und vielleicht möchte der eine oder andere verhindern, dass sie ans Tageslicht kommt.« Er lächelte liebenswürdig und offen. »Kennen Sie Ägypten, Mr Pitt?«
Hinter dem ungezwungenen Ton, den er anschlug, hörte Pitt einen Anflug der Leidenschaft, von der ihm Trenchard bereits eine Kostprobe geliefert hatte, als er von der Schönheit des alten Ägypten und dem Glanz seiner Kultur sprach, der vor allem in Alexandria spürbar war, der Stadt, in deren Nähe der Nil ins Mittelmeer mündete und in gewissem Sinne Afrika und Europa aufeinander trafen.
»Am besten setzen Sie voraus, dass ich nichts weiß«, sagte er bescheiden. »Das wenige, das ich mir angelesen habe, ist bedeutungslos.«
Trenchard nickte zustimmend. »Die schriftlich überlieferte Geschichte Ägyptens reicht bis nahezu fünftausend Jahre vor Christi Geburt zurück.« Er sagte das leichthin, doch klang es Pitt bedeutungsschwer, und er spürte die Ehrfurcht Trenchards. »Für Ihre Zwecke allerdings können Sie all das vernachlässigen. Das gilt sogar noch für die Eroberung des Landes unter Napoleon mit der
kurzen Besetzung durch die Franzosen vor einem knappen Jahrhundert. Sicher ist Ihnen die Schlacht von Abukir ein Begriff, bei der Lord Nelson die französische Mittelmeerflotte vernichtet hat.« Auf Pitts Nicken hin sagte er befriedigt: »Das dachte ich mir.« Während dieses kurzen Vortrags schwang in seiner Stimme eine Bewegtheit mit, die Pitt nicht recht deuten konnte. »Zwar untersteht Ägypten heute dem Namen nach der Hohen Pforte, ist also Bestandteil des Osmanischen Reiches«,
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